Klemm: "Wir müssen uns am tatsächlichen Bedarf orientieren"
Die Vorständin des Dachverbands der Betriebskrankenkassen, Anne-Kathrin Klemm, fordert grundlegende Reformen im Gesundheitswesen – und hat auch Tipps für Unternehmen, wie sie dem Krankenstand entgegenwirken können.
Zur Person
Anne-Kathrin Klemm ist seit dem 1. Juli 2022 Vorständin beim BKK Dachverband, der die Interessen von 64 Betriebskrankenkassen
(BKK) und vier BKK Landesverbänden vertritt. Seit Juli 2025 ist sie Alleinvorständin des Verbandes.
Die Gesundheitskosten steigen kontinuierlich. Sind wir Deutschen kränker als andere?
Anne-Kathrin Klemm: Die Deutschen sind nicht kränker als im internationalen Vergleich, aber wir haben hier deutlich ausgeprägtere Strukturen: Es gibt beispielsweise mehr Krankenhausbetten pro tausend Einwohner und mehr Arzt-Patienten-Kontakte als in vielen anderen Ländern. Gleichzeitig stellen wir in der stationären Versorgung ein Gefälle fest: Während auf der einen Seite Kliniken eine Überlastung beklagen, führt eine Unterauslastung bei anderen zu wirtschaftlichen Nöten. Im ambulanten Bereich beklagt die Ärzteschaft einerseits Zeitnot, gleichzeitig will man aber keine Verantwortung an andere Berufsgruppen wie zum Beispiel Pflegefachkräfte delegieren. Wir verwalten den Mangel im Überfluss, und das treibt die Ausgaben.
Sowohl bei den Krankenkassen als auch den Krankenhäusern fehlt das Geld. Wie ist das zu erklären?
Anne-Kathrin Klemm: Die nicht gut ausgelasteten Häuser binden sowohl Geld als auch Personal. Und gleichzeitig haben wir Häuser, die quasi überrannt werden und denen das Personal dringend fehlt. Die Politik hat die Bedarfsplanung in den letzten Jahren verschlafen. Ambulante und stationäre Planung müssen miteinander besser verzahnt werden: Wenn in einem ländlichen Raum nur noch ein Krankenhaus ist, dann soll es auch ambulante Leistungen anbieten können. Im städtischen Raum kann man Angebote bündeln. Die Krankenhausreform hat gute Ansätze – aber die Gefahr ist groß, dass die Reform nun wieder verwässert wird, weil jedes Land und jede Kommune die eigenen Strukturen schützen will. Am Ende ist eine Transformation der Krankenhauslandschaft aus meiner Sicht alternativlos und wird zu einer höheren Zufriedenheit und wirtschaftlicher Solidität führen. In Dänemark hat es auch funktioniert: Dort gab es zunächst große Vorbehalte in der Bevölkerung, aber alle Akteure zogen an einem Strang. Heute will keiner mehr in die Zeit von damals zurück.
Was muss sich noch im System ändern?
Anne-Kathrin Klemm: Wir müssen den Zugang zur Gesundheitsversorgung besser steuern: Hier könnte die Telemedizin helfen. Mehr Videosprechstunden, weniger Arztbesuche und wenn, dann zielgerichtet – das spart allen Beteiligten Zeit und Geld. Wir müssen aber auch bereits in Kitas und Schulen an der Gesundheitskompetenz arbeiten. Man muss nicht wegen jedem Schnupfen gleich zum Arzt und manchmal hilft vielleicht auch ein Hausmittel. Es gibt viele Stellschrauben, um die Effizienz zu verbessern, ohne Leistungen einschränken zu müssen.
Könnten die Krankenkassen auch mehr Aufklärungsarbeit leisten?
Anne-Kathrin Klemm: Das tun wir bereits, aber hier brauchen wir mehr Akteure, die das auch tun. Als Betriebskrankenkassen können wir vor allem über die Unternehmen viel bewirken. Unsere Gesundheits-App Phileo wird beispielsweise sehr gut angenommen. Mein Traum wäre, die kommende elektronische Patientenakte zu erweitern, so dass jeder Versicherte neben seiner Diagnose auch ergänzende Informationen abrufen kann, die ihm bei der Einordnung der gesundheitlichen Situation helfen und Tipps geben, wie man die Erkrankung ggf. selbst behandeln kann.
Die Gesunderhaltung muss sowohl in der Gesundheits- als auch Pflegepolitik eine größere Rolle spielen.
Stichwort Pflegeversicherung: Sie sprachen angesichts einer aus Ihrer Sicht unzureichenden Beitragsanpassung von 0,2 Prozent von „Insolvenzverschleppung“. Wie dramatisch ist die Lage?
Anne-Kathrin Klemm: Jeder Verantwortliche in der Politik wusste schon im Januar, dass die Beitragsanpassung nicht ausreicht. Wenn nicht sehr kurzfristig etwas passiert, werden bald noch weitere Kassen Finanzhilfen benötigen. Und dann kann es dazu kommen, dass vielleicht die ein oder andere Rechnung auch im Pflegebereich erstmal länger liegen bleibt.
Bereits jetzt beklagen die Leistungserbringer in der Pflege die Zahlungsmoral der Kostenträger, die zu Liquiditätsengpässen führen kann…
Anne-Kathrin Klemm: Das zeigt die Dramatik der Situation. Die gute Nachricht ist, dass ab Juli Nachzahlungen der Rentenversicherung anstehen, die die Beitragsanpassung nicht so schnell umsetzen konnten. Wenn die Ausgabendynamik in der Pflege aber anhält, wird es zum Jahresende wieder ganz eng.
Die Eigenanteile schnellen in die Höhe, die Initiative „Pro Pflegereform“ schlägt vor diesem Hintergrund einen „Sockel-Spitze-Tausch“ vor. Was halten Sie davon?
Anne-Kathrin Klemm: In dem Papier sind gute Punkte drin, aber letztlich stellt sich die Frage der Finanzierung. Die Initiative schlägt vor, aus dem bisherigen Teilkasko-Modell eine Vollkasko-Versicherung zu machen, bei dem der Kostenträger zusätzliche finanzielle Risiken zu tragen hat. Die Koalitionäre scheuen sich bislang hier, ein klares Bekenntnis abzugeben. Sie kündigen zwar eine „große Reform“ an, bleiben aber an der Oberfläche. Die Initiative fokussiert sich meines Erachtens noch zu sehr auf den stationären Bereich, auch wenn sie die Stärkung der pflegenden Angehörigen betont. Wir müssen auch in der Pflege das Thema Prävention und Stärkung der ambulanten Strukturen noch stärker in den Blick nehmen und die Sektorengrenzen durchlässiger gestalten. Auch die Idee einer Bürgerversicherung ist zu hinterfragen: Denn in der privaten Pflegeversicherung werden aktuell pro Person Vorsorgebudgets aufgebaut – das kann man nicht ohne Weiteres in die gesetzliche Pflegeversicherung übertragen.
Stichwort Prävention: Insbesondere in Pflege und Erziehung sind die Krankenstände besonders hoch, gerade aufgrund psychischer Erkrankungen. Was können diakonische Unternehmen präventiv tun?
Anne-Kathrin Klemm: Das A und O ist ein gesundheitsförderndes Arbeitsumfeld. Komme ich gerne zur Arbeit, passt es im Team und ist meine Führungskraft entsprechend empathisch? Das Thema „gesunde Führung“ ist unglaublich wichtig! Auch die Zeitplanung gehört dazu: Wie flexibel kann ich meine Arbeit gestalten und habe ich wirklich frei, wenn ich nicht im Dienstplan stehe? Die Idee der Springer-Pools könnte helfen, Belastungssituationen für die Stammbelegschaft zu reduzieren. Zum anderen sind die Probleme teilweise auch hausgemacht: So haben bessere Entlohnungen dazu geführt, dass mehr Leute ihre Arbeitszeit reduziert haben.
Was halten Sie von dem Vorschlag der Teil-Krankschreibung?
Klemm: Selbst mit einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ist es schon jetzt dem Arbeitnehmenden überlassen, ob er gar nicht oder doch für ein paar Stunden beispielsweise von zuhause aus arbeitet. Ich halte es für schwierig umsetzbar, dass der Arzt kurzfristig eine Einschätzung gibt, ob jemand für drei oder fünf Stunden täglich arbeiten kann.
Zusammenfassend: Was muss sich ändern, um das Gesundheitssystem zu stabilisieren?
Klemm: Wir müssen uns an dem tatsächlichen Bedarf orientieren und nicht an den vorhandenen Strukturen. Und: Die Gesunderhaltung muss sowohl in der Gesundheits- als auch Pflegepolitik eine größere Rolle spielen.
Vielen Dank für das Gespräch.
Die Fragen stellte Tobias-B. Ottmar
Hinweis
Dieser Text erschien zunächst am 14. Mai 2025 im VdDD-Mitgliedermagazin "diakonie unternehmen" 1/25. Die aktuelle Fassung wurde aus Gründen der Aktualität leicht sinnwahrend gekürzt.
Ansprechpartner
Tobias-B. Ottmar
Referent für Öffentlichkeitsarbeit und Verbandskommunikation
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