Seit Januar ist Elke Ronneberger Bundesvorständin Sozialpolitik der Diakonie Deutschland. Im Interview beschreibt sie die Herausforderungen nach der Wahl und begründet, warum soziale Themen wieder mehr Gewicht bekommen sollten.

Hinweis: Dieser Text erschien zunächst am 14. Mai 2025 im VdDD-Verbandsmagazin "diakonie unternehmen".

 

Sie haben mitten im Bundestagswahlkampf das Amt der Bundesvorständin übernommen. Wie war der Einstieg?

Ronneberger: Mitten im Wahlkampf einzusteigen war eine zusätzliche Herausforderung, aber wir haben als Diakonie Deutschland innerhalb der kurzen Zeit versucht, die sozialpolitischen Themen in die Öffentlichkeit zu tragen. Das ist uns mit unserer Kampagne #SozialWählen in den sozialen Netzwerken gut gelungen. Leider spielte das Soziale in der politischen Debatte rund um die Wahl jedoch kaum eine Rolle – obwohl zum Thema Sicherheit eigentlich auch soziale Stabilität gehört.

Von den Unter-25-Jährigen hat die Hälfte Parteien der Ränder gewählt. Wie bewerten Sie diese Entwicklung?

Ronneberger: Die Ergebnisse der AfD und Linken zeigen, wie relevant soziale Medien für diese Zielgruppe bei der Meinungsbildung sind – das hat besonders der Wahlkampf der Linken-Spitzenkandidatin Heidi Reichinnek gezeigt. Andere Parteien müssen sich mehr den Themen der Jugend widmen. Hier sehe ich auch eine Aufgabe für uns als Diakonie. Deshalb bauen wir unsere Präsenz in den sozialen Netzwerken weiter aus, wie zum Beispiel mit unserem Kanal auf WhatsApp.

Bei den Investitionen muss die soziale Infrastruktur konsequent mitgedacht werden.

Wie bewerten Sie die Zwischenergebnisse aus den Arbeitsgruppen der Koalitionsverhandlungen?

Ronneberger: Mich freut, dass die Wohlfahrtspflege bedarfsgerecht finanziert werden soll – es bleibt jedoch abzuwarten, was dies konkret bedeutet. Begrüßenswert sind auch die Absichtserklärungen zum Freiwilligendienst, die einen Ausbau des Angebots erwägen. Wir müssen in das Soziale investieren, bei den Investitionen muss die soziale Infrastruktur konsequent mitgedacht werden.

Ein Thema, das Ihnen am Herzen liegt, ist die Inklusion. Vor acht Jahren trat das Bundesteilhabegesetz in Kraft, das Menschen mit Behinderung mehr Selbstbestimmung ermöglichen soll. Wie gut ist das gelungen?

Ronneberger: Da gibt es noch viel zu tun: Teilhabe hängt zum Bespiel vom Wohnort ab. In Kommunen mit einer angespannten Haushaltslage habe ich als Betroffener seltener ein Wunsch- und Wahlrecht, etwa was die Art der Unterbringung angeht. Der vor kurzem veröffentlichte Evaluationsbericht zum Bundesteilhabegesetz zeigt zudem, dass die Bedarfserhebung in den Ländern sehr unterschiedlich ist und zu abweichenden Ergebnissen führt. Hier sind Nachbesserungen nötig! Menschen mit Behinderung müssen sich in ganz Deutschland darauf verlassen können, dass sie die Leistungen erhalten, die ihnen nach dem Bundesteilhabegesetz zustehen.

Rund 310.000 Personen arbeiten in Werkstätten für Menschen mit Behinderung. Ein Drittel könnte laut Experten auch im ersten Arbeitsmarkt tätig sein. Wie kann das gelingen?

Ronneberger: Die Arbeitslosenquote Schwerbehinderter stagniert bei elf Prozent, und nur 74 Prozent der Unternehmen bieten mindestens einen Pflichtarbeitsplatz an. Etwas mehr als ein Drittel der dazu verpflichteten Unternehmen erfüllt die Beschäftigungsquote von fünf Prozent. Es braucht zum einen mehr Förderung, um Menschen auf dem Weg in den ersten Arbeitsmarkt zu begleiten. Zum anderen brauchen wir aber auch ein Umdenken in den Unternehmen: Wenn das Setting passt und ein Arbeitgeber sich darauf einlässt, dass Dinge beispielsweise mit einer anderen Geschwindigkeit erledigt werden, dann kann es für beide Seiten erfolgreich werden. Dafür müssen wir die Barrieren in den Köpfen abbauen.

Welche Rolle kann die Diakonie dabei spielen?

Ronneberger: Diakonische Unternehmen könnten mit gutem Beispiel vorangehen und auch häufiger als bisher Menschen mit Behinderungen als Beschäftigte im ersten Arbeitsmarkt einstellen. Ich stelle fest, dass wir in unserer eigenen Branche da auch noch Überzeugungsarbeit leisten müssen. Es gibt aber auch gute Beispiele – und die müssen wir kommunizieren und zum Nachahmen ermutigen.

Ein anderes wichtiges Thema ist der Mangel an bezahlbarem Wohnraum. Was erwarten Sie von der neuen Bundesregierung?

Ronneberger: Der Staat muss das Recht auf bezahlbaren Wohnraum sichern, etwa durch die Verlängerung der Mietpreisbremse. Neben einem verstärkten Wohnungsneubau setzt sich die Diakonie für eine stärkere Mobilisierung von Wohnraum im Bestand ein. Untersuchungen zeigen, dass durch eine bessere Nutzung des vorhandenen Wohnraums bis zu 50.000 Wohnungen jährlich entstehen könnten – etwa durch einen vereinfachten Wohnungstausch oder gemeinschaftliche Wohnmodelle.

In Deutschland gibt es knapp 532.000 Wohnungslose, davon leben 47.300 ohne Obdach. Der Nationale Aktionsplan will die Wohnungslosigkeit bis 2030 beenden. Ist dieses Ziel realisitisch?

Ronneberger: Der Aktionsplan – an dessen Erarbeitung auch die Diakonie Deutschland maßgeblich mitgewirkt hat – muss mit konkreten Maßnahmen untermauert werden. Es braucht gesetzliche Regelungen für mehr Mieterschutz. Der Zugang zu Wohnraum für wohnungslose Menschen muss verbessert und von Wohnungslosigkeit bedrohte Menschen müssen effektiv vor dem Verlust ihrer Wohnung geschützt werden. Ein wichtiger Baustein ist die Prävention: Unternehmen und Privatpersonen, die Wohnungen vermieten, sollten enger mit Sozialarbeitenden nach Lösungen suchen, damit Menschen erst gar nicht ihre Wohnung verlieren.

Müssen wir allgemein mehr Geld in den Sozialstaat investieren oder besser lernen, mit den verfügbaren Ressourcen auszukommen?

Ronneberger: Investitionen in die soziale Infrastruktur sind essenziell. Sie stärken den gesellschaftlichen Zusammenhalt und das Vertrauen in die Politik. Die finanziellen Lasten müssen gerecht verteilt werden. In einer solidarischen Gesellschaft bedeutet dies, dass starke Schultern mehr tragen als die schwachen.

Ein anderes zentrales Thema ist die Pflege. Eine von der Diakonie initiierte Petition zählt  über 140.000 Unterzeichnende. Was sind die Kernforderungen?

Wir wollen, dass Pflegebedürftige vor unkalkulierbaren Risiken geschützt werden und plädieren daher für die Pflegevollversicherung. Zudem muss der Zugang zu Leistungen der Pflegeversicherung übersichtlicher und einfacher werden. Darüber hinaus müssen pflegende Angehörige wirtschaftlich, auch im Rentenalter, besser abgesichert werden. Wer seine Arbeitszeit reduziert, weil er Verwandte pflegt, sollte dadurch selbst keine Nachteile im
Alter erleiden.

Vielen Dank für das Gespäch!

Das Gespräch führte Tobias-B. Ottmar


Hinweis

Dieser Text erschien zunächst am 14. Mai 2025 im VdDD-Mitgliedermagazin "diakonie unternehmen" 1/25

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Herr Tobias Ottmar trägt eine ovale Brille, einen Bart und ein weißes Hemd.
Tobias-B. Ottmar

Referent für Öffentlichkeitsarbeit und Verbandskommunikation