Altenpflege – wie stationär ist die Zukunft? Immobilienexperte Hölscher im Gespräch

Fehlen bald hunderttausende Pflegeheimplätze? Martin Hölscher, Experte für Sozialimmobilien bei der Aachener Grundvermögen, sieht entsprechende Hochrechnungen kritisch. Ein Gespräch über die Investorensicht auf Pflegeimmobilien und die Anspruchshaltung der Babyboomer.

Zur Person

Martin Hölscher ist Leiter Ankauf Gesundheitsimmobilien bei der Aachener Grundvermögen, einer Immobilieninvestmentgesellschaft für institutionelle Anleger, überwiegend aus dem kirchlichen und gemeinnützigen Bereich.

Der Bedarf an Pflegeleistungen wird demografiebedingt deutlich steigen. Lässt sich heute schon absehen, ob dieser Mehrbedarf eher über Sondereinrichtungen bzw. klassische Pflegeheime gedeckt werden wird oder eher über ambulante Dienste und neue Wohnformen wie Servicewohnungen und Quartierskonzepte?

HÖLSCHER: Da gehen die Meinungen weit auseinander. Interessenbedingt zitiert eine Gruppe von Projektentwicklern und Investoren immer wieder Studien, nach denen bis 2030/35 bis zu 300.000 neue Pflegeheimplätze entstehen müssen, um den demografiebedingten zusätzlichen Bedarf zu decken (1). Diese Studien unterliegen allerdings dem Fehler, Zahlen aus der Vergangenheit unreflektiert in die Zukunft zu transponieren.

Zu wenig beachtet wird dabei, dass die Verweildauer in stationären Pflegeeinrichtungen immer weiter sinkt. Wenn aber die Verweildauer sinkt, werden tendenziell weniger als mehr Plätze benötigt. Weiterhin lassen diese Studien außer Acht, dass in den vergangenen 15 Jahren das Angebot an neuen Wohnformen und teilstationärer Pflege immens ausgebaut worden ist. Ablesen kann man dies heute schon daran, dass der Anteil der Pflegebedürftigen, die vollstationär betreut werden, deutlich gegenüber den Vorjahren gesunken ist – was nicht allein auf die Ausweitung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs zurückzuführen ist.

Die beiden wesentlichen Argumente aber, die für ein Mehr an neuen Wohnformen und Quartierslösungen sprechen, sind hiermit noch gar nicht benannt. Zum einen ist dies der Wunsch der Seniorinnen und Senioren, so lange wie möglich so selbstbestimmt und selbständig wie möglich zu leben und zu wohnen. Zum zweiten ist es der ebenfalls demografiebedingte Verlust an Fachkräften, der es zukünftig gar nicht mehr zulässt, eine wachsende Anzahl Pflegebedürftiger derart (fach-)personalintensiv zu betreuen, wie dies heute noch in der stationären Pflege geschieht.

Bundesländer bremsen Investitionen

Was spricht heute aus Investorenperspektive gegen den Neubau von Pflegeheimen bzw. wo liegen hier besondere Unsicherheitsfaktoren und Risiken?

HÖLSCHER: Der größte Unsicherheitsfaktor ist die Weigerung der Politik, geeignete und verlässliche Rahmenbedingungen zu schaffen. So lange keine Bereitschaft besteht, zusätzlich zu den herausfordernden Bedingungen des 2023 scharf geschalteten neuen Pflegebemessungsverfahrens (PeBeM) auch pragmatische Lösungen zu einer Absenkung der seinerzeit willkürlich festgelegten Fachkraftquote zu akzeptieren, ist nicht davon auszugehen, dass sich für zusätzliche Platzkapazitäten auch entsprechende zusätzliche Fachkräfte rekrutieren lassen, ohne an anderer Stelle Löcher in bestehende Belegschaften zu reißen.

Zudem ist eine seit langem fehlende Bereitschaft der zuständigen Bundesländer zu registrieren, eine Anpassung der Investitionskostensätze an wesentliche Parameter wie Baukosten oder Zinsen zur Sicherung der Neubautätigkeit sicherzustellen. Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen bilden hier positive Ausnahmen.  Auch fehlt die Akzeptanz für Indexierungen, die in Gewerbemietverträgen absolut üblich sind. Indexierungen sind eine Grundvoraussetzung, um institutionelles Kapital für diese Assetklasse zu generieren.

Gleichzeitig haben neue Formen wie Service-Wohnungen aus Investorensicht Vorteile gegenüber dem klassischen Heim. Sie unterliegen einer signifikant niedrigeren Regulatorik und haben eine deutlich größere Nähe zum normalen Mietwohnungsmarkt. Sie verfügen  also über eine erheblich bessere Drittverwendungsfähigkeit als eine Sondereinrichtung.

Je integrierter, desto attraktiver

Seit vielen Jahren geht der Trend weg von in sich geschlossenen Sonder-einrichtungen hin zu mehr Offenheit und Integration ins Quartier. Hat die klassische „Seniorenstadt“ draußen auf der grünen Wiese noch eine Zukunft?

HÖLSCHER: Wer – immer noch – auf der grünen Wiese investiert ist selbst schuld. Immobilienangebote, die gut ins normale Leben integriert sind, vielfältige Leistungen und Wohnmöglichkeiten bieten sowie – nicht nur baulich – barrierearm gestaltet sind, sind sowohl für die Bewohner als auch aus Kapitalmarktsicht attraktiver. Quartiersentwicklungen liegen mit vollem Recht im Trend. Werden uns bei der Aachener Grundvermögen Projekte angeboten, lautet unser diesbezüglicher Leitsatz: Je kleiner die Gemeinde, desto zentraler muss der Standort innerhalb der Gemeinde sein.

Der Ausschuß Gesundheitsimmobilien beim Spitzenverband der deutschen Immobilienwirtschaft ZIA hat 2019 eine Zukunftswerkstatt „Pflege 2050“ veranstaltet – mit Teilnehmern aus der ganzen Pflegebranche. Zentrale Ergebnisse sind: Den Quartieren gehört die Zukunft und eine „Entsäulung“ des Pflegeleistungssystems ist zwingend erforderlich.

Stambulante Pflege – Auf die Umsetzung kommt es an

Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach will mit der sogenannten stambulanten Pflege eine neue Versorgungsform einführen. Das Ziel laut Lauterbach: „Man lebt in einer Wohnung, die so versorgt wird, dass man bis zu seinem Lebensende bleiben kann, auch bei höheren Pflegegraden.“ Ist das ein Schritt in die richtige Richtung?

HÖLSCHER: Vorreiter des Konzepts „Stambulant“ ist die BeneVit-Gruppe. Ich kann mich noch gut an die Diskussionen mit dem geschäftsführenden Gesellschafter Kaspar Pfister vor mehr als zehn Jahren erinnern. Die Politik hatte in kurzer Folge mit den Pflegestärkungsgesetzen I-III die bis dahin geltende Systematik der Finanzierung von Pflegeleistungen vom Kopf auf die Füße gestellt und damit ein signifikantes Signal zur Ambulantisierung der Pflege gesetzt. Kaspar Pfister stand kopfschüttelnd vor den so genannten Stapellösungen. Gemeint war und ist damit die Möglichkeit, 100 Prozent der ambulanten Leistungen mit 100 Prozent der teilstationären Leistungen kombinieren zu können. Pfister prognostizierte bereits damals, dass dies – ohne erkennbaren Mehrwert – die Leistungsfähigkeit der Pflegeversicherung unterminieren werde. Er entwickelte als Antwort darauf im Rahmen eines Modellvorhabens nach §45c SGB XI in Kooperation mit der AOK Baden-Württemberg das „Stambulante“ Modell, welches die Vorteile sowohl des stationären wie des ambulanten Settings miteinander verknüpft – zu deutlichen geringeren Kosten für die Pflegeversicherung wie die Pflegebedürftigen gegenüber dem Modell Stapellösung.

Angewandt wie im Haus Rheinaue der BeneVit-Gruppe in Whyl wäre das Modell „Stambulant“ in jedem Fall ein Schritt in die richtige Richtung für die Weiterentwicklung der stationären Pflege in Deutschland. Allerdings haben wir mit dem ebenfalls von der BeneVit-Gruppe stark vorangetriebenen Hausgemeinschaftskonzept in der Vergangenheit die Erfahrung gemacht, dass bei vielen Nachahmern nur noch „Hausgemeinschaft“ an der Tür stand, die gelebten Konzepte in den Häusern aber weit entfernt waren – und bis heute sind – von dem, was damit bezweckt werden sollte – ein Leben im Alter und bei Pflegebedürftigkeit zu ermöglichen, das soweit wie möglich dem „normalen“ Leben zu Hause gleicht – Stichwort Normalitätsprinzip. Insofern lautet die kurze Antwort: Prinzipiell ein Schritt in die richtige Richtung, aber man muss ein sehr gutes Auge auf die konkrete Umsetzung haben.

Eine ganz andere Anspruchshaltung

Lässt sich schon absehen, welche spezifischen Anforderungen die Generation der Babyboomer an das Wohnen im Alter hat?

HÖLSCHER: Noch sind die Babyboomer – mit wenigen Ausnahmen – nicht in den Einrichtungen angekommen. Aber sie nähern sich natürlich der Tür. Wobei festzustellen ist – nicht nur in der stationären Pflege, nein, auch im Betreuten Wohnen findet der Einzug immer später statt. Dies hat einerseits mit der höheren Lebenserwartung der Menschen bei gleichzeitig guter ärztlicher Versorgung zu tun, aber auch mit den gestiegenen Möglichkeiten, durch bauliche Maßnahmen und ambulante Hilfen den Wechsel aus der eigenen Wohnung in eine betreute Wohnform nach hinten verschieben zu können.

Die Frage nach spezifischen Anforderungen trifft nach meiner Einschätzung nicht ganz den Kern dessen, worin sich diese Generation von der vorherigen Kriegs- und frühen Nachkriegsgeneration unterscheidet. Es ist eher ein Unterschied in der Lebenseinstellung und -haltung. Ein Beispiel: In  dieser Generation ging es nicht mehr darum, irgendwie satt zu werden. Nein, es geht darum, wie ernähre ich mich oder zugespitzt gesagt: welchen Wein  bevorzuge ich? Und die Dankbarkeit für die einfachen Dinge ist verlorengegangen, wir haben es mit einer ganz anderen Anspruchshaltung zu tun. Wer sich darauf einstellen möchte, sollte sich in einer der Premium-Senioren-Residenzen zu einem Praktikum im Servicebereich anmelden. Dort wird diese Kundenbeziehung auf Augenhöhe schon seit vielen Jahren gelebt, auf die sich alle anderen in den kommenden Jahren mehr und mehr werden einstellen müssen. Und das ist auch gut so. Das Kuratorium Deutsche Altershilfe spricht in seinem Impulsbeitrag „Wohnen 6.0“ (2) auch von einer „Demokratisierung“ der Einrichtungen.

Fragen: Alexander Wragge

Anmerkungen:

(1)    Vgl. etwa „Deutschland fehlen hunderttausende Pflegeheimplätze bis 2040“, F.A.Z., 29.11.2021
(2)    Kuratorium Deutsche Altershilfe (KDA) : „Wohnen 6.0 – mehr Demokratie in der (institutionellen) Langzeitpflege“, Impulspapier, 2021

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