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Digitaler und näher am Menschen?! | Interview

New Work ist ein diakonisches Thema, sagt Harald Thiel, Vorstand der Stephanus Stiftung in Berlin. In einem Gespräch mit Rolf Baumann spricht er über neue Wege in der Pflege und Eingliederungshilfe, Lehren aus der Unternehmensentwicklung und die Innovationskraft diakonischer Unternehmen.

Rolf Baumann: New Work – ein Thema für IT- und Verwaltungsberufe, aber doch nicht für die soziale Arbeit. Oder? Ist New Work in der Pflege und Betreuung möglich?

Harald Thiel: "New Work heißt, Arbeit so zu organisieren, dass sie nichts Gezwungenes ist, sondern man Arbeit tut, die man wirklich will", hat Fritjof Bergmann, der Urvater der New Work-Theorie gesagt. Und macht nicht gerade das die Arbeit im sozialen Bereich aus? Insofern kann ich es nur bejahen. New Work bedeutet Verantwortung abzugeben, Führung zu dezentralisieren, Eigenverantwortung zu fördern. Kurz: Arbeit neu zu denken. Und das ist in allen Bereichen sozialer Arbeit möglich.

Oft wird die neue Arbeitswelt in einem Atemzug mit Digitalisierung genannt. Ist beides miteinander verknüpft oder funktioniert New Work auch analog?

New Work ist von Grund auf analog. Die Digitalisierung hat die Transformation in den vergangenen Jahren nur beschleunigt – sie wirkte wie eine Vitaminspritze. Die digitale Unterstützung hilft dabei, Arbeitsabläufe und -strukturen neu zu bewerten und flächendeckend einzusetzen. Zu den bisherigen Aspekten von New Work – Zufriedenheit, Freiheit, Sicherheit – sind heute die Aspekte der Prozessorientierung und der Flexibilisierung von Arbeit hinzugekommen. Die vergangenen zwei Jahre haben uns eindrücklich gezeigt, wie gut flexibles, agiles, dezentrales Arbeiten funktionieren kann. In unseren zentralen Diensten arbeitet heute die Mehrheit von Zuhause – mit Hilfe digitaler Tools.

 In den zentralen Diensten ist agiles Arbeiten einfacher umzusetzen. In anderen Bereichen scheint das schwieriger.

In der Assistenz, Begleitung, Pflege und Betreuung scheint es unmöglich. Aber bei der Organisation von Schichtarbeit kann über die Freiheit und Selbstbestimmung der Mitarbeitenden durchaus nachgedacht werden. Hier wird es langfristig Veränderungen geben müssen. Aber mehr Flexibilität in der Arbeitsgestaltung und mehr Eigenverantwortung bedeutet immer auch einen höheren Koordinierungsaufwand. Hierbei kann die Digitalisierung wiederum helfen. In der Schichtplangestaltung könnten etwa Plattformen einen Großteil dieser Koordinierungsaufgaben übernehmen.

Die Handlungsfelder der Stephanus Stiftung richten sich an Senioren, Kinder und Jugendliche, Menschen mit Behinderung oder Beratungsbedarf – ambulant, teilstationär, stationär. Welche Potenziale gibt es hier in Bezug auf New Work? Sind diese in der ambulanten Arbeit größer?

Nein, ich denke, dass die Potenziale im stationären Bereich genauso groß sind wie im ambulanten – es ist hier nur schwieriger, bestehende Prozesse und die komplexen Systeme zu überwinden und aufzubrechen. Individuelle Wünsche in der Dienstplangestaltung lassen sich im stationären Bereich schwieriger umsetzen. Im teilstationären und im ambulanten Dienst, also dort, wo ich in der Lage bin, direkt mit den Kundinnen und Kunden Ziele und Termine zu vereinbaren, ist ein eigenverantwortlicheres Arbeiten leichter möglich. Gleichzeitig bin ich aber davon überzeugt: Wenn die Teams ein gemeinsames Mindset, eine gemeinsame Idee von Arbeit haben, dann funktioniert New Work auch im stationären Bereich.

Zu diesem "Mindset" gehört auch ein neues Führungsverständnis?

Genau. Wichtig ist ein gemeinsames Verständnis über den Umfang von Verantwortung. Bis wohin reicht die Eigenverantwortung des Einzelnen? Wie viel Entscheidungsgewalt gibt die Führungsetage ab? Als Vorstand muss ich lernen an welcher Stelle es sinnvoll ist, den Mitarbeitenden gewisse Freiheiten zu gewähren und wann ein Eingreifen erforderlich ist. Das hat viel mit Vertrauen zu tun. Wir arbeiten in den zentralen Diensten seit Jahren im Konsensprinzip und das danken uns unsere Mitarbeitenden.

Die Stephanus Stiftung hat sich in den letzten Jahren in verschiedenen Projekten insbesondere mit der Zukunft der Pflege beschäftigt. Eines dieser Projekte war der "Pflegetiger". Was steckt dahinter?

Stephanus ist sehr stationärlastig ausgerichtet, das ambulante Angebot ist recht klein. Uns war klar: Um weiterhin wettbewerbsfähig zu sein, müssen wir uns erweitern. Als wir die Möglichkeit bekamen, das Startup "Pflegetiger" zu übernehmen, haben wir die Chance ergriffen.

Sicherlich ein lehrreiches Projekt. Ein Startup tickt ganz anders als ein Traditionsunternehmen wie die Stephanus Stiftung.

Es war ein gegenseitiges Lernen. Natürlich mussten wir das Geschäftsmodell anpassen. Anders als ein Startup, müssen wir an die Wirtschaftlichkeit und Refinanzierbarkeit denken. Aber wir konnten auch vieles übernehmen: Die app-basierte Kommunikation, eine flexiblere Arbeitspolitik, flachere Hierarchien. Grundsätzlich haben wir gelernt, offener in Lösungen zu denken, Mitarbeitende als Wachstumstreiber zu verstehen und über den Tellerrand unserer etablierten Strukturen zu schauen. Ich sehe in der quartiersnahen Pflege eine Antwort auf die steigenden Pflegebedarfe. "Pflegetiger" ist da nur der Anfang.

Was kommt noch?

Ich denke, dass es in Zukunft darauf hinauslaufen wird, dass Kundinnen und Kunden benötigte Pflege- und Dienstleistungen flexibel buchen können – unabhängig von festen Versorgungsverträgen. Pflegeheime werden dann vermehrt zu Vermietern ihrer Immobilien, die entsprechende Leistungen auf Wunsch zur Verfügung stellen. Bereits 2015 haben wir gemeinsam mit dem VdDD die Idee eines digitalen Marktplatzes – das sogenannte "Pflege-Uber" – entwickelt und damit einen ersten Schritt in diese Richtung gewagt. Heute gibt es einige weitere Projekte, die diesen Gedanken aufgreifen. Diakonische Unternehmen sollten sich beeilen, entsprechende Angebote zu entwickeln, bevor neue Unternehmen entstehen, die den Markt dominieren.

In einem der jüngsten Projekte – dem ESF-Projekt von V3D in Kooperation mit sechs Mitgliedsunternehmen – wurde ein System zur digitalen Planung und Dokumentation in der ambulanten Eingliederungshilfe entwickelt und implementiert. Welche Effekte hat der digitale Workflow auf die Arbeit?

Wir haben unsere etablierten Prozesse überprüft und durch die Einführung der neuen Software Arbeitsabläufe optimieren können. Dadurch ist das Gewünschte eingetroffen: Dokumentationszeiten haben abgenommen und die Betreuungszeiten wurden erhöht. Aber das Projekt ist nur der Anfang. Die Nutzung digitaler Anwendungen für die Dokumentation wird sich in den kommenden Jahren kontinuierlich weiterentwickeln, bis hin zum Einsatz von Sprachassistenten – die es ja bereits gibt. Das heißt: New Work ist ein Prozess. Neue Technologien werden alte Strukturen aufbrechen. Das Auto oder das Fahrrad werden zum mobilen Büro. Arbeiten wird zunehmend dezentraler.

Das klingt nach einer spannenden Zukunft, die Visionen sind da. Doch leider scheitern gute Ideen häufig an politischen, an bürokratischen Hürden. Was muss sich ändern, damit diakonische Unternehmen innovativ sein können?

Ich würde gar nicht bei der Politik anfangen. Die größte Hürde liegt in der Diakonie selbst. Wir brauchen ein gemeinsames Mindset, den gemeinsamen Willen, ein innovativer, zukunftsgewandter Player in der Gesundheits- und Sozialwirtschaft zu sein – ohne Angst vor Digitalisierung und Innovation. Im zweiten Schritt braucht es von der Politik verlässliche Budgets, um Innovationen umzusetzen. Ich wünsche mir hier mehr Vertrauen in die Innovationskraft der Diakonie. Redet nicht nur über Startups und Social Entrepreneurs, sondern nutzt das bestehende Potenzial diakonischer Unternehmen!

Interview: Rolf Baumann

 

Dieser Artikel erschien in der aktuellen Ausgabe des VdDD-Mitgliedermagazins 01/2022 "diakonie unternehmen". Öffnen Sie hier den Artikel als PDF-Dokument.

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