NEWS | Innovationskraft der Diakonie: digitaler, nachhaltiger, agiler

Wie gelingt der Diakonie ein neuerlicher Innovationsschub? Wie gestaltet sie neue Produkte und Dienstleistungen? Das war Thema unserer außerordentlichen Mitgliederversammlung im Rauhen Haus in Hamburg. Die Diskussion im Überblick. 

Für eine Debatte zur Innovationskraft der Diakonie eignet sich kaum ein Ort besser als das Rauhe Haus in Hamburg. Seine Geschichte zeigt, wie alle diakonischen Einrichtungen einmal angefangen haben, nämlich als „Social Startup“, wie man es heute ausdrücken würde. Johann Hinrich Wichern gründet hier 1833 gemeinsam mit Hamburger Bürgerinnen und Bürgern ein Rettungsdorf für Kinder aus armen Verhältnissen. Was dann in Hamburg und weiteren diakonischen Einrichtungen im ganzen Land folgt, ließe sich auch als Geschichte wirkmächtiger Innovationen erzählen. Die Gründungsmütter und –väter der Diakonie finden immer neue Wege, Hilfe zu leisten – für epilepsiekranke und obdachlose Menschen genauso wie für Waisenkinder und Kriegsversehrte. Im Rauhen Haus und andernorts wird eine sozialpädagogische Ausbildung entwickelt – und somit der Grundstein für die moderne Sozialarbeit gelegt. In Bethel wird die erste Werkstatt für Menschen mit Behinderung in Betrieb genommen.

An den Gründungsgeist anknüpfen 

Heute sind aus den diakonischen Initiativen der Anfangstage etablierte Sozialunternehmen geworden. Im Fall des Rauhen Hauses ist es eine Stiftung, die sich mit 1.200 Mitarbeitenden unter anderem in den Bereichen  Kinder- und Jugendhilfe, Sozialpsychiatrie und Bildung engagiert. Insgesamt bieten diakonische Unternehmen und Einrichtungen für ca. 10 Millionen Menschen Betreuung, Beratung, Pflege und medizinische Versorgung. Art und Inhalt der Leistungen sind jedoch zunehmend durch die Sozialgesetzbücher vorgegeben.

Wie lässt sich also heute an den Gründungsgeist der Diakonie anknüpfen und die Innovationstradition fortsetzen? Welche neuen Wege sind zu gehen, um zur Lösung aktueller Problemlagen beizutragen? Und was können etablierte Sozialunternehmen von den heutigen Social Entrepreneurs lernen? Das diskutierten rund 50 Vertreterinnen und Vertreter von VdDD-Mitgliedsunternehmen anhand von 25 innovativen Ideen aus der Sozialwirtschaft.

Mehr Nachhaltigkeit, weniger Verschwendung

Großen Innovationsbedarf sehen die Teilnehmenden in Punkto Nachhaltigkeit. Diakonische Unternehmen haben sich das Ziel gesetzt, bis spätestens 2035 klimaneutral zu wirtschaften. In den Blick zu nehmen sind beispielsweise die Dekarbonisierung der Gebäude, die Lieferketten und die Mobilität. Der Klimaschutz ist hier noch nicht alles. Angestrebt wird Nachhaltigkeit im umfassenden Sinn – orientiert an den Sustainable Development Goals (SDGs) der Vereinten Nationen.

Schon jetzt setzen diakonische Träger einiges in Bewegung. Die Augustinum Gruppe kooperiert beispielsweise mit einem Startup, um Lebensmittelabfälle in ihren Einrichtungen zu vermeiden. Mit Hilfe künstlicher Intelligenz wird berechnet, wie hoch die Nachfrage nach Speisen im Seniorenheim ausfallen wird. Auch das Evangelische Krankenhaus Hubertus in Berlin arbeitet beständig an seiner Nachhaltigkeit. Die CO2-Emissionen der Klinik konnten bereits um die Hälfte gesenkt werden. Die jüngste Neuerung: eine eigene Klimamanagerin koordiniert die laufenden Nachhaltigkeitsprojekte – von der ressourcenschonenden Verpflegung bis zum Recycling.

Neue Produkte & Leistungen

Auch die Frage nach neuen und verbesserten Leistungen stellt sich laufend neu. Größter Innovationstreiber sind die Möglichkeiten der fortschreitenden Digitalisierung. Die Evangelische Heimstiftung in Württemberg entwickelt beispielsweise mit einem IT-Anbieter ein Bündel an digitalen Assistenz-Systemen für ältere Menschen – genannt ALADIEN. Das Ziel: mehr Komfort, Sicherheit und Selbstbestimmtheit im Alltag. Zum Beispiel lösen Sensoren bei Stürzen den Notruf aus und ein besonders bedienerfreundliches Tablet erleichtert die Kommunikation. Die Heimstiftung achtet bei der Entwicklung auf hohe Standards, zum Beispiel in Punkto Datenschutz. Hauptgeschäftsführer Bernhard Schneider sieht die neuen Technologien im Einklang mit der diakonischen Tradition. „Das ist Diakonie, das ist Helfen, wo geholfen werden muss.“ Es gehe bei ALADIEN auch darum, Know How für die Zukunft aufzubauen. 

Mit Blick auf neue Produkte und Leistungen sehen 60 Prozent der Teilnehmenden ein hohes und 14 Prozent ein sehr hohes Innovationspotenzial in ihren Unternehmen. 

Neue Wege zur Teilhabe

Viele der vorgestellten Projekte wollen mehr soziale Teilhabe ermöglichen. Das Verbundprojekt Freigeist Lab entwickelt beispielsweise digitale Assistenzsysteme für Menschen mit kognitiven Schwächen und eröffnet ihnen dadurch ein breiteres Spektrum an beruflichen Tätigkeiten. Für die Teilnehmenden sind es allerdings zuallererst kulturelle Veränderungen (ein „neues Mindset“), mit denen sich mehr soziale Teilhabe erreichen lässt. Ein Beispiel hierfür ist das inklusive Social Media Team der Evangelischen Stiftung Hephata. Hier gestalten Menschen mit Behinderung das Programm selbst, nämlich den Youtube-Kanal „Behindert – so what!“.  Die Themen reichen vom Politiker-Interview bis zum Alltagsbericht eines an ADHS Erkrankten. Social-Media-Referent Simon Roehlen sagt: „Das Wichtigste ist, den Menschen auf Augenhöhe zu begegnen, nicht nur zu befähigen, sondern selbstbestimmtes Arbeiten zu ermöglichen.“ Die Stiftung Hephata habe viel Mut bewiesen, diesen Weg zu gehen.

Innovative Allianzen

Um das Innovationspotenzial freizusetzen, haben sich insbesondere Kooperationen und Allianzen bewährt. Seit 2013 arbeitet zum Beispiel der Klinikträger AGAPLESION mit dem Startup-Inkubator Flying Health zusammen. Gemeinsam unterstützt man Gründerinnen und Gründer aus dem Gesundheitswesen mit einem Stipendium. AGAPLESION fungiert außerdem als Praxispartner für die neuen Ideen. Auf den Weg gebracht wurde so beispielsweise eine App, die bei der Behandlung von Depressionen hilft. Laut Claudia Möller, Leiterin des Innovationsmanagements bei AGAPLESION, hilft die Kooperation mit dem Inkubator dabei, „out of the box“ zu denken und Entwicklungen aktiv zu gestalten, statt nur darauf zu reagieren.

Lehren aus der Diskussion

Anhand der präsentierten Beispiele und der Diskussion fasste Rolf Baumann, Bereichsleiter Ökonomie des VdDD, die Ergebnisse in Thesen zusammen:

1. Innovation geschieht selten zufällig. Um den Innovationsbedarf und das Innovationspotenzial zu identifizieren und Neuerungen auch tatsächlich durchzusetzen, braucht es entsprechende Strategien, Management- und Organisationsstrukturen, unternehmerisches Denken und eine innovationsfreundliche Kultur. Viele diakonische Unternehmen haben beispielsweise Innovationsbeauftragte eingesetzt, entsprechende Vorstandsbereiche  geschaffen oder – bei entsprechender Größe –  eigene F&E-Abteilungen aufgebaut. Die Johannes Diakonie Mosbach geht einen weiteren Weg und nutzt die vorhandenen Ressourcen im Unternehmen:  sie setzt auf die Kreativität ihrer Mitarbeitenden. Diese bringen sich über die Teilnahme an Ideenwerkstätten, sogenannten Zukunftsschmieden, in die Unternehmensentwicklung ein. 

2. Die Zusammenarbeit mit (Social) Startups bietet Innovationspotenzial für diakonische Unternehmen. Neben den genannten Beispielen untermauert das auch eine Umfrage unter den Teilnehmenden. Auf die Frage Mit wem würden Sie am Ehesten eine Allianz eingehen, um Innovation zu erreichen? antworten 30 Prozent mit Startups / Startup-Inkubator. Dahinter folgen unter anderem Hochschulen & Forschungsinstitute sowie Zivilgesellschaftliche Initiativen.  Auch Markus Sauerhammer, Vorstand des Social Entrepreneurship Netzwerks Deutschland (SEND), hält entsprechende Allianzen für gewinnbringend. Diakonische Unternehmen könnten von der Innovationskraft der heutigen Social Startups profitieren – und seien umgekehrt mit ihrer Erfahrung und Reichweite starke Partner für neue Ideen, so Sauerhammer in seiner Keynote. Hierfür brauche es Augenhöhe in der Zusammenarbeit. 

3. Innovationen brauchen kreative Spielräume. Sie gelingen oft erst im zweiten oder dritten Anlauf. Auch das Scheitern gehört dazu und ist keine „Mittel-Fehl-Verwendung“. Wer nichts riskiert, kann nicht innovativ sein. Das zeigt auch die Zusammenarbeit mit Startup-Inkubatoren. Hier verhält es sich in der Sozialwirtschaft nicht anders als in der Privatwirtschaft, wo sich von vielen neuen Ideen oft nur wenige durchsetzen. Eine Quote von einem Erfolg bei zehn Versuchen ist keine Seltenheit. Doch auch gescheiterte Innovationen liefern wichtige Erkenntnisse und sind oft der Ausgangspunkt, um das Ziel auf anderem Weg zu erreichen. 

4. Soziale Innovationen erfordern Budgets. Vor der Corona-Pandemie gab die deutsche Privatwirtschaft knapp 76 Milliarden Euro und damit ungefähr 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) für Forschung und Entwicklung aus. Von entsprechenden Investitionsbudgets ist die freigemeinnützige Sozialwirtschaft weit entfernt. Das gilt es strukturell zu ändern. Innovative Sozialunternehmen benötigen verlässliche Budgets für Forschung und Entwicklung, um die Chancen im Sinne der Klientinnen und Klienten nutzen. Beispielsweise müssen Pflegesätze und Personalschlüssel Anteile für die fachliche und organisatorische Entwicklung und somit für Innovationen enthalten. 
 

Hinweis: Die außerordentliche Mitgliederversammlung des Verbandes diakonischer Dienstgeber in Deutschland e.V. (VdDD) fand am 10. November 2021 im Rauhen Haus in Hamburg statt. Anwesend waren Vertreterinnen und Vertreter von rund 50 Mitgliedseinrichtungen aus Deutschland und allen Hilfefeldern.