Zurück zu "Vater Staat"? | Interview mit dem VdDD-Vorsitzenden Habenicht und Diakonie-Präsident Lilie

Im Gespräch: Diakonie-Präsident Ulrich Lilie (re.) und der VdDD-Vorstandsvorsitzende Ingo Habenicht.

Foto: CJD / Dominik Eisele

Von Corona-Maßnahmen über Rettungsschirme bis zur Energiepreisbremse – während die einen massive staatliche Eingriffe für das Gebot der Stunde halten, warnen andere vor Dirigismus. Im Gespräch erläutern Diakonie-Präsident
Ulrich Lilie und der VdDD-Vorstandsvorsitzende Ingo Habenicht ihre Sicht auf die Debatte.

Zu den Personen

Pastor Dr. Ingo Habenicht (links) ist Vorstandsvorsitzender des Evangelischen Johanneswerks und VdDD-Vorstandsvorsitzender. Pfarrer Ulrich Lilie ist Präsident der Diakonie Deutschland und stellvertretender Vorstandsvorsitzender des Evangelischen Werkes für Diakonie und Entwicklung.

Die Antwort darf nicht ein neuer Etatismus sein

Seit der Corona-Pandemie und dem Angriffskrieg auf die Ukraine mit all ihren Folgen ist der Staat gefragt wir lange nicht. Sehen Sie das Risiko eines am Ende übermächtigen Staates?

Lilie: Ich würde mit dem Soziologen Andreas Reckwitz sagen: die westlichen Demokratien sind im Moment auf der Suche nach einer neuen Erzählung. Aber das ist sicherlich nicht die Rückkehr zum alten “Vater Staat”, der alles für alle regelt. Das widerspricht auch meinem Staatsverständnis. Was aber auch klar ist: eine neoliberale Erzählung nach dem Motto "Der Markt wird es schon richten" wird unseren Herausforderungen nicht gerecht. Denken Sie neben den akuten Krisen allein an die sozial-ökologische Transformation. Was wir in der Tat brauchen, ist eine neue und breite Verständigung über das Verhältnis von Ordnung und Freiheit.

Habenicht: Das sehe ich auch so. Die Frage nach dem richtigen Verhältnis von Regeln und Freiheit ist aktuell. An manchen Stellen erlebe ich auch ein fragwürdiges Verständnis von persönlicher Freiheit. Ein ganz praktisches Beispiel: Warum können wir uns in Deutschland selbst jetzt nicht zu einem allgemeinen Tempolimit auf den Autobahnen durchringen, obwohl das Energie sparen, das Klima schützen und Todesfälle vermeiden würde? Gerade in dieser Lage sollten wir eingeübte Denkmuster überprüfen. Was die Gefahr eines übermächtigen Staates angeht, so haben wir mit dem Subsidiaritätsprinzip bereits eine immer noch passende Antwort. Die Dinge müssen auf der Ebene geregelt werden, auf die sie gehören. Ob das die lokale, die nationale oder sogar europäische Ebene ist, müssen wir immer wieder neu aushandeln.

"Der Dritte Sektor geht viel zu oft unter"

Machen wir es an einer Debatte fest. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach hat die Privatisierung von Pflegeeinrichtungen rückblickend als einen Fehler bezeichnet. Allerdings sei eine Enteignung privater Investoren rechtlich nicht machbar. Sind derartige Gedankenspiele Teil eines neuen Zeitgeistes – nach dem Motto ‘Der Staat sollte die Dinge lieber selbst in die Hand nehmen’?

Lilie: Tatsächlich brauchen wir eine Debatte darüber, und wir erleben das ja seit Corona, in welcher Form wir dem Gemeinwohl dienliche Leistungen dem Markt überlassen wollen. Da stimme ich dem Minister zu. Ob private Gewinne in der Pflege ein Zukunftsmodell sind, möchte ich stark hinterfragen. Ein anderes Thema ist, ob Kommunen Pflegeleistungen wieder verstärkt selbst anbieten sollten, und ich weiß nicht, ob der Minister in dieser Richtung zu verstehen ist. Allerdings begegnen mir solche Vorstellungen landauf landab häufiger, auch bei kommunal Verantwortlichen. Da bin ich mehr als skeptisch. Die Antwort auf ein Zuviel an Liberalisierung darf nicht ein neuer Etatismus sein. Da schütten wir das Kind mit dem Bade aus. Der Wettbewerbsgedanke wurde in den 1990er Jahren zurecht ins System eingeführt, um mehr Qualität und bessere Leistungen in der Pflege zu erreichen. Als Diakonie zeigen wir, wie wettbewerbsorientiertes und zugleich gemeinnütziges Arbeiten zu guten Ergebnissen führt.

Habenicht: Daran kann ich anknüpfen. An vielen Stellen reift zurecht die Erkenntnis: Es macht keinen Sinn, Gelder aus Sozialkassen in private Gewinne umzumünzen. Der gemeinnützige Dritte Sektor geht in dieser Zuspitzung ‘Staat vs. Privat’ aber leider viel zu oft unter. Auch Herr Lauterbach erwähnte ihn hier nicht. Eine ganz andere Frage sind die Aufgaben des Staates. Eine starke Rekommunalisierung von Pflegeeinrichtungen wäre der falsche Weg. Wir brauchen das Wunsch- und Wahlrecht, wir brauchen Trägervielfalt. In der Pflicht ist der Staat vielmehr dabei, die richtigen Rahmenbedingungen zu schaffen. Anstelle eines unübersichtlichen Mischsystems aus Verantwortlichkeiten brauchen wir eine grundlegende Pflegeform. Die Pflege muss zukunftsfest werden, insbesondere die Refinanzierung. Die Ruhrgebietskonferenz Pflege hat kürzlich ein Sondervermögen Pflege ins Spiel gebracht. Ob das schon die Lösung wäre oder nicht, wir müssen grundlegend neu nachdenken.

Lilie: Ja. Statt eines Rückblicks, was in den 1990er Jahren hätte besser laufen können, erwarten wir vom Minister den Blick nach vorn. Die Pflege muss als zentraler Bestandteil der öffentlichen Daseinsvorsorge im politischen Bewusstsein ankommen. Die pflegerische Versorgung ist allein aufgrund der Demographie eine der vordringlichsten Aufgaben der nächsten Jahrzehnte.
Die Herausforderungen sind bekannt: die Begrenzung der Eigentanteile, die Personalschlüssel, die Personalgewinnung …

Da können wir nicht sagen, wir schrauben immer weiter am alten Modell herum. Wir brauchen Mut für echte Reformen.

Rechnen Sie denn in dieser Legislaturperiode noch mit einer großen Pflegereform?

Lilie: Wir werden diese Koalition daran messen, ob sie in der Lage ist, das Thema in all seiner Komplexität und mit Verve anzugehen.
Viele Vorschläge, auch unsere, liegen auf dem Tisch.

Habenicht: Ob ich Hoffnung habe, ist schwer zu sagen. Noch ist bei diesem Thema nicht viel zu hören.

Der Staat muss zielgenau helfen

Ein gewisses Unwohlsein über die neue Rolle des Staates scheint auch daher zu rühren, dass krisenbedingt die Staatsausgaben stark steigen. Manche befürchten eine Art “Vollkasko-Mentalität”...

Lilie: Es kommt auf die Kalkulation an. Wenn wir zum Beispiel auf Corona gucken, dann hat sich der riesige Rettungsschirm wirtschaftlich durchaus ausgezahlt. Wir sind mit einer relativ guten Beschäftigungs-Quote relativ gut durch diese Krise gekommen. Ohne Rettungsmaßnahmen wäre es noch viel teurer geworden. Dasselbe gilt übrigens für den Klimaschutz. Nichts zu tun ist die teuerste Option.

Provokant gefragt: Wäre es nicht wichtig, in der Krise auch mal den Ideenreichtum aller Beteiligten freizusetzen, statt
immer nur neue Staatshilfen zu verteilen?

Lilie: Beides muss Hand in Hand gehen: intelligente staatliche Interventionen und die Kreativität in Wirtschaft und Gesellschaft. Das ist kein Entweder-Oder, sondern ein Sowohl-als-Auch. Beispiel Nachhaltigkeit: Da haben sich viele diakonische Unternehmen längst auf den Weg gemacht und entwickeln von sich aus innovative Lösungen. Aber ohne eine stabile Refinanzierung wird Klimaneutralität in der Diakonie nicht zu erreichen sein, allein schon, wenn es um klimaschonende Gebäude geht.

Habenicht: Den Pauschalvorwurf der Vollkasko-Mentalität teile ich nicht. Tatsächlich muss der Staat zielgenau helfen, nicht mit der Gießkanne. Aber in schwerwiegenden Notlagen hilft Kreativität allein nicht mehr weiter. Ein Beispiel: Wir können in unseren diakonischen Einrichtungen Energie sparen und tun das auch nach Kräften. Aber wir können im Altenheim nicht die Heizung abstellen und Decken austeilen. Auf die Kostenexplosion in der Gesundheits- und Sozialwirtschaft braucht es eine systemische Antwort.

Ins Spannungsfeld zwischen Regeln und Freiheit gehört auch die Idee eines Soziales Pflichtjahrs. Herr Habenicht, warum sind Sie dafür?

Habenicht: Mit einem Pflichtjahr könnte das Verständnis für soziale Arbeit gefördert werden. Es geht mir dabei auch um die Frage, wie wir den Zusammenhalt in einer pluralen, multikulturellen Gesellschaft verbessern und wieder mehr Menschen für soziale Berufe gewinnen. Natürlich müsste ein solcher Gemeinschaftsdienst ausreichend finanziert sein.

Herr Lilie, Sie sind da eher skeptisch...

Lilie: Ich bin selbstverständlich für den Freiwilligendienst, und wir haben eine Fülle von Vorschlägen, diesen noch attraktiver zu machen, nicht nur für junge Menschen. Was eine Pflicht angeht: Der Zivildienst war ein riesiger Apparat, der sehr viel Geld gekostet hat und mit viel Bürokratie verbunden war. Ob wir das jetzt wieder wollen? Da würde ich ein Fragezeichen machen…

Habenicht: Es gibt berechtigte praktische Einwände gegen ein Pflichtjahr. Ich will aber sagen, worum es mir in der Debatte grundsätzlich geht. Als schwierig empfinde ich ein verabsolutiertes Ideal individueller Freiheit. Wir sind nun mal nicht allein auf der Welt. Wir bewegen uns in einer Gemeinschaft. Es geht mir darum, das Individuum zu stärken und gleichzeitig die Gemeinschaft in den Blick zu nehmen, die Interessen in eine Balance zu bringen. Wäre es wirklich unzumutbar zu sagen, liebes Individuum, stelle Dich für einen bestimmten Zeitraum in den Dienst der Gemeinschaft? Diese Debatte halte ich für berechtigt. Sie ist aber momentan sicherlich nicht das Hauptthema.

Lilie: Bei einer Debatte über Freiheit und Gemeinschaft bin ich sofort dabei, die müssen wir unbedingt führen, das ist eine der großen Lehren aus Corona.

Kommen wir noch zu einem anderen Thema, bei dem einige Akteurinnen und Akteure Eingriffe des Staates fordern, nämlich zum kirchlichen Arbeitsrecht. Was erwarten Sie sich von der im Koalitionsvertrag angekündigten Überprüfung?

Lilie: Die Koalition will ja ausdrücklich mit den Kirchen ins Gespräch kommen. Diesem Gespräch sehe ich ziemlich gelassen entgegen. Die hohe Tarifbindung, die vergleichsweise hohen Gehälter und das, was wir an Mitbestimmung organisieren, sprechen eindeutig für unser kirchliches Arbeitsrecht, das ja im Übrigen immer wieder weiterentwickelt wurde.

Herr Habenicht, sind Sie auch gelassen?

Habenicht: Was unsere inhaltlichen Stärken betrifft, kann ich voll zustimmen. Nicht so gelassen bin ich in der Frage, ob wir in der Lage sind, diese Stärken klar genug zu kommunizieren, auch gegenüber der Öffentlichkeit. Da müssen wir in Kirche und Diakonie geschlossener auftreten und besser werden.

Wir wollen nicht nur überleben …

Zum Schluss ein Ausblick: Die Diakonie hat schon einige Krisen durchgestanden – wird es diesmal wieder so sein? Wird es Diakonie in 10 oder 20 Jahren noch geben?

Habenicht: Diakonie beginnt für mich, wenn Menschen aus einem christlichen Impuls heraus anderen Menschen helfen.
Solange es das gibt, gibt es auch die Diakonie. Was die organisierte Diakonie und die diakonischen Unternehmen betrifft, so stehen wir vor großen Veränderungsprozessen, die wir nicht nur überleben, sondern selbst positiv gestalten wollen. Das heisst nicht, dass alles bleibt, wie es ist. Auch in der diakonischen Landschaft gibt es Veränderungen, kleine Träger haben es besonders schwer. Der Krankenhausbereich ist im Umbruch. Aber grundsätzlich würde ich sagen, ja, wir könnten so ein Interview auch noch in 20 Jahren führen.

Lilie: Wir werden im nächsten Jahr 175 Jahre Diakonie in Deutschland feiern und wir werden das mit einer großen angelegten Beteiligungs-Kampagne tun. 1848 hat Johann Wichern in Wittenberg eine großartige Rede gehalten, die eine diakonische Bewegung losgestoßen hat, die bis heute für den Sozialstaat prägend ist. Heute leben wir wieder in Zeiten tiefgreifender gesellschaftlicher Veränderungen und wir sind gut beraten, erneut nach neuer Orientierung, nach neuen Konzepten und Ideen zu suchen. Wenn es uns gelingt, so wie Wichern damals neue Antworten zu finden, werden wir eine großartige Zukunft haben.

Interview: Alexander Wragge

Hinweis: Das Interview ist ein Auszug aus der Herbstausgabe des VdDD-Mitgliedermagazins "diakonie unternehmen". Mitglieder des internen Bereichs können das Magazin angemeldet hier in voller Länger abrufen.