Digitale Lösungen in der Pflege - "Längst kein Science Fiction mehr"

Vom Türschloss mit Transponder bis zur intelligenten Matratze – die Evangelische Johannesstift Altenhilfe gGmbH erforscht mit Partnern digitale Lösungen in der Pflege. „Wir können den Fokus im Sinne der Diakonie klar auf den Menschen legen und die Technik entsprechend prägen“, sagt Tobias Kley, Verbundkoordinator des Pflegepraxiszentrums Berlin.

Tobias Kley

Zur Person:
Tobias Kley verantwortet den Bereich Innovation und Technik in der Evangelisches Johannesstift Altenhilfe gGmbH. In dieser Funktion ist Kley auch Verbundkoordinator des Pflegepraxiszentrums Berlin (PPZ). 

Mit dem Pflegepraxiszentrum in Berlin erproben Sie digitale Lösungen in der Pflege. Was müssen digitale Lösungen leisten, damit Sie von einem Erfolg sprechen?

Tobias Kley: Zwei Ziele sind für uns zentral. Die neuen Anwendungen und Prozesse sollen die Sicherheit und Qualität der Pflege erhöhen und sie sollen die Pflegekräfte entlasten. Ein Beispiel: In Pflegeeinrichtungen kommt es immer wieder zu Stürzen, oft mit schwerwiegenden Folgen. Bewohner stehen nachts auf und verunglücken auf dem Weg zum Bad. Das lässt sich verhindern, indem Sensoren den Aufstehversuch melden und das Pflegepersonal rechtzeitig zur Stelle ist. Auch andere kritische Situationen lassen sich mit Hilfe von Sensorik frühzeitig erkennen. Beispielsweise misst die Matratze nachts kontinuierlich Parameter wie Atemfrequenz, Puls und Bewegungsintensität und schlägt Alarm, wenn Grenzwerte erreicht werden.

Manchmal bewirken digitale Lösungen auch positive Effekte auf verschiedenen Ebenen, zum Beispiel eine Arbeitsentlastung und mehr Sicherheit. Auch hier ein Beispiel: Bislang schreiben Pflegekräfte die Vitalwerte der Pflegebedürftigen oft noch selbst in die entsprechende Akte. Wenn diese Werte digital erhoben und automatisch in der Akte gespeichert werden,  geht das nicht nur viel schneller und die Pflegekräfte sparen Zeit für andere Tätigkeiten, die Übertragung der Daten ist so auch viel weniger fehleranfällig.

Bedürfnisgerechte Technologien

Was hat das Evangelische Johannesstift Altenhilfe und Ihre Partner dazu motiviert, in die praxisnahe Erprobung digitaler Innovationen einzusteigen?

Tobias Kley: Die Digitalisierung ist derzeit das bestimmende Thema, wenn es um den Wandel der Arbeit geht. Das betrifft auch die Pflege. Ein großes Problem ist jedoch, dass Technologien häufig für die Pflege, aber nicht mit der Pflege entwickelt wurden. Im Ergebnis scheitert die Implementierung von innovativen Lösungen häufig an der fehlenden Passgenauigkeit für Pflegeprozesse. Deshalb wollten wir diesen Prozess aktiv mitgestalten. Das führt nicht nur dazu, dass die Technik bedürfnisgerechter wird. Es entwickelt sich ein gegenseitiges Verständnis für die jeweiligen Notwendigkeiten – was braucht die Pflege und was braucht die Technik?

Welche Hürden für digitale Innovationen erleben Sie in der Praxis?

Tobias Kley: Ein großes Problem ist die technische Infrastruktur. Flächendeckendes WLan ist nicht überall vorhanden. Die Konfiguration der vorhandenen Netze ist nicht so individuell möglich wie wir das teilweise bräuchten. Die Sicherheitshürden, um ‚einfach mal probieren‘ zu können, sind auch relativ hoch. Schnittstellen zu bestehenden Fachsystemen sind nicht vorhanden oder nur sehr teuer herzustellen. Damit haben wir beim Start des Projektes natürlich gerechnet. Wie sehr diese Themen auch im dritten Jahr des Projektes noch bremsen, ist trotzdem erstaunlich.

Herausfordernd bleibt auch, die Innovationen dauerhaft in die Praxis zu bringen, zum Beispiel die Sensorik. Das sind häufig Lösungen von kleinen Unternehmen, teils von Startups. Da wird schon mal eine Firma verkauft, das Produkt eingestellt, das Geschäftsmodell verändert oder der Preis plötzlich verdreifacht. Mit dieser fehlenden Kontinuität hatten wir so nicht gerechnet.

Zum Projekt:
Das PPZ (Pflegepraxiszentrum) Berlin  ist ein Forschungsprojekt zur Digitalisierung in der Pflege. Ziel ist es, innovative Lösungen zur Mensch-Technik-Interaktion in die Pflege zu bringen. Getestet werden marktverfügbare Lösungen, die vor allem die Pflegeprobleme Demenz, Mobilität, Diabetes und Dekubitus adressieren. Das Projekt wird seit dem Start 2018 bis 2023 mit knapp 4 Millionen Euro durch das Bundesforschungsministerium (BMBF) gefördert. Koordiniert wird das Projekt durch die Evangelisches Johannesstift Altenhilfe, zudem sind zwei weitere Praxispartner aus der Johannesstift Diakonie beteiligt. Die technischen Fragestellungen bearbeiten die Unternehmen Escos Automation und NursIT Institute. Die wissenschaftliche Arbeit übernehmen die Charité-Forschungsgruppe Geriatrie, die Alice-Salomon-Hochschule und das Institut Mensch, Ethik, Wissenschaft (IMEW).

„Gerade Diakonie muss den Wandel mitgestalten“

Wie gestaltet sich die Zusammenarbeit mit den Mitarbeitenden in den Pflegeeinrichtungen?

Tobias Kley: Sehr positiv. Wir stoßen bei den Kolleginnen und Kollegen mit unseren Versuchen und Lösungen quasi nie auf Ablehnung. Die meisten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sehen die Chancen und sind neugierig. Allerdings sinken die Freude und das Engagement verständlicherweise proportional zu auftretenden Fehlern. Hier müssen alle im Projekt sehr sensibel sein. Mögliche Fehlerquellen sind vor der Testung in der Praxis bestmöglich auszuräumen.

Diakonie und digitaler Wandel – passt das zusammen?

Tobias Kley: Ja. Gerade Diakonie muss den Wandel mitgestalten. Je aktiver wir als diakonische Träger sind, desto mehr können wir auch unsere Werte und Vorstellungen in den Veränderungsprozess einbringen. Wir können den Fokus im Sinne der Diakonie klar auf den Menschen legen und die Technik entsprechend prägen.

Bei der Digitalisierung darf es uns nicht nur darum gehen, Defizite zu beheben, zum Beispiel der hohen Arbeitsbelastung der Pflegekräfte entgegenzuwirken. Wie in den Beispielen gezeigt, können digitale Innovationen auch die Sicherheit der Menschen mit Pflegebedarf erhöhen und damit ihre Lebensqualität. Dank technischer Unterstützung ist ein selbstbestimmteres Leben möglich, in der eigenen Häuslichkeit und in der stationären Pflege. Das zeigen auch erste Studien. Beispielsweise wurde bei Einsatz eines sensorgesteuerten Systems für Dekubitusprophylaxe eine deutlich gesunkene Inzidenz gezeigt. Also: Digitale Lösungen können die Mitarbeitenden entlasten und die Lebensqualität pflegebedürftiger Menschen erhöhen.

„Schon jetzt steigt die Akzeptanz enorm“

Was ist Ihre Prognose – wird die Pflege in 10 Jahren grundlegend anders aussehen als heute?

Tobias Kley: Der Mensch soll und wird weiterhin im Fokus der Pflege stehen. Aber die Prozesse in der Pflege werden sich verändert haben. In der ambulanten Pflege werden die täglichen Routen der Pflegedienste meines Erachtens digital und in Echtzeit aktualisiert werden, je nach akutem Handlungsbedarf. Möglich macht das die Sensorik, die beispielsweise die Vitaldaten erfasst oder einen Sturz erkennt.  Auch in der stationären Pflege werden neue technische Lösungen die Prozesse verändern – von selbstumlagernden Betten über die Dekubitusprophylaxe bis zu Robotern, die Angebote zur Unterhaltung und Animation bieten.

Das ist alles hier verkürzt dargestellt und hört sich so geballt vielleicht noch nach Science Fiction an. Aber alle diese Lösungen gibt es bereits und sie werden teils schon eingesetzt. Natürlich kann keine Einrichtung von heute auf morgen den Schalter umlegen und das ist auch gut so. Die neuen Lösungen werden den Alltag sukzessive verändern. So war es schon immer. Mitzudenken ist auch, dass die Menschen mit Pflegebedarf den digitalen Wandel selbst treiben werden. Denn wir werden alle älter und zukünftig sind die digital- und onlineaffinen Generationen diejenigen, die Pflegedienste in Anspruch nehmen. Schon jetzt steigt die Akzeptanz enorm. Manche Großeltern agieren zusehends digital, allein schon wegen der Videochats mit ihren Enkeln in Corona-Zeiten.

Was bremst den technischen Fortschritt noch aus?

Tobias Kley: Eine Hürde bleibt die technische Infrastruktur. Da haben wir in Deutschland insgesamt Nachholbedarf, und insbesondere in vielen Pflegeeinrichtungen. Eine andere Hürde ist – trotz der genannten Positivtrends – das gesellschaftliche Mindset beim Thema Digitalisierung, das oft von Schreckensszenarien und Vorurteilen geprägt ist. Ein Beispiel ist die Debatte um Roboter in der Pflege. Da kommt schnell das falsche Bild auf,  Roboter sollten den Menschen komplett ersetzen. In der Praxis erlebe ich ganz andere Reaktionen. Wir haben einmal einen ganz einfachen Roboter zur Unterhaltung in eine Einrichtung mitgenommen. Nahezu alle Damen und Herren waren neugierig und hatten einen spannenden und amüsanten Nachmittag. Oder nehmen Sie das Beispiel Telepräsenzroboter, die zum Beispiel eine Videokommunikation mit dem entfernt lebendem Freundeskreis ermöglichen. Auch hier ist die Reaktion der Nutzerinnen und Nutzer sehr positiv.

Recht auf digitale Unterstützung

Ärgert Sie die Einseitigkeit der Debatte manchmal?

Tobias Kley: Ich würde mir manchmal wünschen, dass die erzielten Verbesserungen mehr wahrgenommen werden. Hierzu noch ein Beispiel aus unserer Arbeit: Eine Bewohnerin im Servicewohnen konnte aufgrund von motorischen Schwierigkeiten in den Händen ihre Wohnungstür nicht mehr aufschließen. Ein digitales Türschloss mit Transponder löste das Problem. Die Dame konnte wieder selbständig unterwegs sein, ohne die ständige Angst, nicht mehr in die eigene Wohnung zu kommen. Schon diese kleine technische Lösung bedeutet also ein Mehr an Selbstbestimmung und Teilhabe. Trotzdem verbuchte die Dame diesen Fortschritt in Gesprächen nicht unter Nutzen der Digitalisierung.

Welche Haltung wünschen Sie sich von den Trägern und Einrichtungen?

Tobias Kley: Vereinzelt stößt man bei Anbietern sozialer Dienstleistungen noch auf ein Mindset nach dem Muster: Jetzt haben wir doch dieses WLan, was brauchen wir denn noch alles?. Wichtig ist, sich bewusst zu werden, dass man den digitalen Wandel nicht einmal durchlaufen kann und dann damit fertig ist. Die technischen Möglichkeiten und die Bedarfe der Nutzerinnen und Nutzer ändern sich fortlaufend.  So wie Pflegebedürftige heute ihr Lieblingsmöbelstück in eine stationäre Einrichtung mitnehmen können, muss es ihnen auch möglich sein, eigene digitale Lösungen mitzubringen und ‚angeschlossen‘ zu bekommen. Ich habe Menschen vor Augen, die in ihrer Häuslichkeit schon quasi volldigitalisiert gelebt haben – Stichwort Smart Home - und die sich dann in der stationären Einrichtung mittels eines Vouchers im öffentlichen WLan anmelden sollten. Das war mit dem Großteil der Geräte so gar nicht möglich oder führte die Usability ad absurdum. Es muss verinnerlicht werden, dass die digitale Unterstützung auch ein Recht der Menschen ist.

Das Interview führte Alexander Wragge