Sinnstiftend und familienfreundlich

Foto: Jürgen Lippert

Zerrieben werden zwischen Beruf und Familie – das erleben immer noch viele Beschäftigte. Die BruderhausDiakonie und die Diakonie Libera zeigen, wie modernes Personalmanagement familienfreundliche Arbeitsbedingungen in sozialen Berufen schafft. Dabei hilft ein noch junges Siegel.

Vielen Beschäftigten fällt es weiterhin schwer, berufliche und familiäre Aufgaben unter einen Hut zu bekommen. Einer aktuellen Umfrage zufolge bereitet dies 60 Prozent zumindest ab und an Probleme.  Entsprechend wächst der Anspruch an Arbeitgeber, Mitarbeitende in ihrer familiären Verantwortung zu unterstützen – unabhängig davon, ob sie diese für Kinder oder pflegebedürftige Angehörige übernehmen. Umfragen zufolge geben neun von zehn Beschäftigten mit minderjährigen Kindern an, dass ihnen Familienfreundlichkeit bei der Jobwahl genauso wichtig oder sogar wichtiger ist als das Gehalt. Im Wettbewerb um Fachkräfte ist Familienorientierung also längst ein Schlüsselfaktor.

Die besondere Unterstützung für Mitabreitende mit Kindern hat in der Diakonie Tradition. So sind zum Beispiel in den meisten Tarifwerken der Diakonie – anders als in weltlichen Tarifverträgen – Kinderzuschläge vorgesehen. Fachkräfte erhalten monatlich – je nach Region – zwischen 88 und 124 Euro pro Kind. Finanzielle Unterstützung ist aber natürlich nur ein Baustein in Puncto Familienorientierung. Für Beschäftigte mit familiären Aufgaben sind in der Regel flexible Arbeitszeiten und – ganz grundsätzlich – eine familienfreundliche Organisationskultur noch wichtiger. 

Franziska Woellert, Leitung Evangelisches Gütesiegel Familienorientierung

Familienorientierung strukturell verankern

2019 haben Diakonie Deutschland und Evangelische Kirche in Deutschland gemeinsam das Evangelische Gütesiegel Familienorientierung gestartet. Inzwischen sind 12 Träger und Einrichtungen als familienorientiert zertifiziert, weitere 45 sind dabei, das Siegel zu erwerben.

Ausgangspunkt des Zertifikats ist die Beobachtung, dass Familienorientierung zwar in vielen kirchlichen und diakonischen Einrichtungen gelebt wird, ohne allerdings strukturell verankert zu sein. "In der evangelischen Arbeitswelt haben Führungskräfte schon immer die familiäre Verantwortung ihrer Mitarbeitenden mitgedacht, aber die wenigsten diakonischen und kirchlichen Einrichtungen haben Familienorientierung als Teil der Personalstrategie verstanden", erklärt Franziska Woellert, die das Evangelische Gütesiegel Familienorientierung leitet. "Dadurch fehlte es an Transparenz und Planungssicherheit für die Beschäftigten. Und die Personalabteilungen konnten Familienorientierung nicht gezielt zur Fachkräftegewinnung einsetzen."

Das Gütesiegel fungiert als Managementinstrument, mit dem die Familienorientierung erfasst, weiterentwickelt und kommuniziert werden kann. Die Zertifizierung erfolgt prozesshaft und partizipativ. Gemeinsam mit den Mitarbeitenden entwickeln die Leitungen vor Ort nach einer Bestandsaufnahme familienfreundliche Maßnahmen, die auf ihre jeweilige Situation zugeschnitten sind. Das hat den Vorteil, dass die Zertifizierungsteilnehmenden – vom Verwaltungsamt über die Altenpflegeeinrichtung bis hin zum Krankenhausträger – bedarfsgerecht passgenaue Konzepte umsetzen können, statt einfach starre Checklisten zu erfüllen. 

Das Evangelische Gütesiegel Familienorientierung

Entscheidend ist die Kultur

Von grundsätzlicher Bedeutung  ist laut Woellert die Kultur im Unternehmen. "Der Arbeitgeber sollte die familiäre Verantwortung der Mitarbeitenden kennen, wertschätzen und unterstützen." Als Beispiel nennt Woellert das Thema Leitungsfunktion. "Ein familienfreundliches Unternehmen muss sich von dem Anspruch lösen, dass Führungskräfte rund um die Uhr erreich- und verfügbar sind." Damit auch Eltern junger Kinder und pflegende Angehörigen Leitungsfunktionen ausüben können, böten sich verschiedene Modelle an, zum Beispiel die Flexibilisierung der Arbeitszeiten, Jobsharing oder "Führung in Teilzeit". Der Zertifizierungsprozess setze ein offenes Gespräch im Unternehmen in Gang, wodurch das Bewusstsein für die verschiedenen Anliegen und Interessen zum Thema Vereinbarkeit von Beruf und Familie geschärft werde.

In Puncto familienfreundliche Arbeitszeiten verweist Woellert auf die große Vielfalt an hierzu entwickelten Modellen – vom Mitspracherecht der Mitarbeitenden bei der Personaleinsatzplanung bis zur ergebnisorientierten Arbeitsorganisation, mit der starre Kernarbeitszeiten ersetzt werden können. Die in der Gesundheits- und Sozialwirtschaft übliche Schichtarbeit könne zwar nicht abgeschafft, aber möglichst familienorientiert organisiert werden.

Die BruderhausDiakonie in Baden-Württemberg. Foto: Jürgen Lippert

Familienorientierung in der BruderhausDiakonie

Aktuell befinden sich auch Einrichtungen der BruderhausDiakonie im Zertifizierungsprozess. Die gemeinnützige Stiftung mit rund  5.000 Mitarbeitenden bietet in Baden-Württemberg vielfältige Leistungen für etwa 10.000 Menschen – unter anderem in den Bereichen Altenhilfe, Eingliederungshilfe, Jugendhilfe und Sozialpsychiatrie. Seit langem arbeitet die Stiftung an der Familienfreundlichkeit. Bereits 2008 wurden die Mitarbeitenden zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf befragt. Hier zeigte sich der besondere Bedarf nach Kinderbetreuung. Darauf hat das Sozialunternehmen reagiert, indem es an bestimmten Standorten eine Kooperation mit Tagesmüttern eingegangen ist. Diese betreuen in Räumlichkeiten der Stiftung Kinder der Mitarbeitenden – bis zu einem Alter von drei Jahren.  Für Kinder bis zu zwölf Jahren wird außerdem eine Notfallbetreuung angeboten, und zwar rund um die Uhr. Wenn der Notfall dienstlich bedingt  ist, werden die Kosten vom Dienstgeber übernommen.

Darüber hinaus bietet die BruderhausDiakonie finanzielle Zuschüsse für Kindergartenplätze und flexible Arbeitszeitmodelle. Auch Leitungsfunktionen in Teilzeit werden individuell ermöglicht. Mitarbeitende, die Angehörige pflegen, können eine innerbetriebliche Beratung in Anspruch nehmen. Hierfür stehen ihnen Pflegelotsinnen und -lotsen als neutrale Vertrauenspersonen zur Seite.

Tagesbetreuung für Kinder der Mitarbeitenden in der BruderhausDiakonie. Foto: BruderhausDiakonie.

Vorteil auf dem Arbeitnehmermarkt

"Familienfreundlichkeit war schon immer Teil der Unternehmenskultur der BruderhausDiakonie", sagt Sigrun Rose-Weine, Leitung Region Bodensee-Oberschwaben. "Wir arbeiten im Sinne einer dienstlichen, christlichen Gemeinschaft zusammen." Familie sei dabei "breit gedacht", ergänzt Tobias Günther, Fachbereichsleitung Altenhilfe in der Region. "Dazu gehören alle Lebensgemeinschaften, bei denen Menschen direkte Verantwortung für andere übernehmen."

Die Familienorientierung hat laut Stiftung für alle Seiten Vorteile. Sie erhöhe die Zufriedenheit, Motivation und Leistungsbereitschaft der Mitarbeitenden. Außerdem stärke sie die Bindung an das Unternehmen. So würden teure Personalwechsel vermieden. "Die Familienfreundlichkeit bietet uns nicht zuletzt Wettbewerbsvorteile auf dem Arbeitnehmermarkt in der Pflege", sagt Marc Böhringer, Leitung Region Reutlingen Altenhilfe. 

Ein Pool für mehr Verlässlichkeit

In der Pflege ist die Familienorientierung besonders herausfordernd. Pflegekräfte berichten beispielsweise, wie frustrierend es ist, an eigentlich freien Tagen "aus dem Off" geholt zu werden, um für andere einzuspringen. Eltern müssen in diesem Fall spontan Kinderbetreuung organisieren, auf Dauer drohen sie zwischen Beruf und Familie zerrieben zu werden.

Wie zahlreiche diakonische Unternehmen setzt auch die BruderhausDiakonie auf einen Mitarbeitenden-Pool (Flexpool), um mehr Verlässlichkeit zu schaffen und Ausfälle besser abzufedern. Über den Flexpool werden Pflegekräfte in verschiedenen Einrichtungen eingesetzt. So erhöht sich der Kreis derjenigen, die 'einspringen' können. Zugleich können die Mitarbeitenden im Flexpool ihre Arbeitszeiten individuell festlegen. Beispielsweise können Elternteile ihre Arbeitszeiten so legen, dass sie ihre Kinder zur Kita bringen oder von dort abholen können. In verschiedenen Einrichtungen finden Wunscharbeitszeiten auch ohne den Flexpool Berücksichtigung.

Ausfälle einplanen

Der auf Arbeitszeitmodelle spezialisierte Arbeitsrechtler Christian Schlottfeldt beobachtet seit Jahren den Trend, die Verlässlichkeit und Flexibilität von Dienstplänen in der Gesundheits- und Sozialwirtschaft zu verbessern. Grundsätzlich wichtig sei, Ausfälle zu einem gewissen Grad miteinzuplanen, sie also als Normfall und nicht als Störfall zu behandeln. Neben Mitarbeitendenpools seien differenzierte Dienstdauern, verschiebbare Zwischendienste (neben der Früh- und der Spätschicht) sowie "geteilte Dienste" keine Seltenheit mehr. In Einrichtungen der Eingliederungshilfe würden zunehmend auch Elemente der eigenverantwortlichen Arbeitszeitgestaltung neben die klassische Dienstplangestaltung treten. "Ein Standardrezept gibt es allerdings nicht", so Schlottfeldt. "Die Modelle sind jeweils an die Gegebenheiten vor Ort anzupassen." Ein aktueller Trend sei, den Beschäftigten möglichst mehrere freie Tage am Stück zu ermöglichen, um die Attraktivität der Stellen zu steigern.

"Wichtig ist auch das Gefühl"

Mit dem Familiensiegel will die BruderhausDiakonie ihre Familienorientierung noch stärker kommunizieren und zum festen Teil der eigenen Marke machen. Zugleich entwickelt ein Team von neun Beschäftigten aus den verschiedenen Arbeitsfeldern der BruderhausDiakonie im Rahmen der Zertifizierung neue Maßnahmen.

"Der Zertifizierungsprozess kommt bei den Mitarbeitenden sehr gut an", sagt Christoph Gresch, Leitung Wilhelm-Maybach-Stift Friedrichshafen, Region Bodensee-Oberschwaben. "Viele freuen sich, dass sie gefragt werden." Thema ist aktuell beispielsweise, wie bei Terminplanungen für Sitzungen und Fortbildungen auf familiäre Verpflichtungen Rücksicht genommen werden kann. "Wichtig ist auch das Gefühl, dass man mit seinen Anliegen die anderen nicht mehr belastet. Sie sind akzeptiert."

Die Geschäftsstelle der Diakonie Libera in Görlitz. Foto: David Pinzer

"Ohne Familienorientierung geht es nicht mehr"

Zu den ersten zwölf Trägern, die das "Evangelische Gütesiegel Familienorientierung" erworben haben, gehört die Diakonie Libera. In Sachsen und in Südbrandenburg bietet das Sozialunternehmen Kindertagesstätten und Horte, Kinder- und Jugendhilfeeinrichtungen, Wohnstätten für Menschen mit Behinderung, sowie Altenhilfe-Einrichtungen mit betreutem Wohnen und stationären Pflegeplätzen. In insgesamt neun Einrichtungen arbeiten rund 500 Beschäftigte. Im Rahmen der Zertifizierung hat die Stiftung unter anderem eine Dienstvereinbarung zum Mobilen Arbeiten und eine Handlungsrichtlinie "Kinder am Arbeitsplatz" entwickelt. Kinder von Mitarbeitenden werden bevorzugt in den stiftungseigenen Kindertageseinrichtungen aufgenommen. Für Mitarbeitende mit pflegebedürftigen Angehörigen wurde auch hier eine eigene Beratung geschaffen.

Personalleiterin Stephanie Gierth sieht in der Familienorientierung weniger einen Bonus als eine Notwendigkeit. "Ein modernes zeitgemäßes Unternehmen, insbesondere in der Wohlfahrt, kann es sich nicht leisten auf Angebote für Familien und Alleinstehende zu verzichten", so Gierth. Junge Bewerberinnen und Bewerber würden bei der Wahl des Arbeitgebers erwarten, dass dieser die "Grundbedingung" Familienfreundlichkeit erfülle. Das Familiensiegel helfe der Diakonie Libera, genau das zu signalisieren. "Ein Siegel vermittelt Vertrauen, es steht für Beständigkeit."

"New Work" und diakonische Werte lassen sich verknüpfen

Franziska Woellert, Projektleiterin des Gütesiegels, meint, dass gerade diakonische Unternehmen mit die besten Voraussetzungen haben, familienorientiert zu arbeiten. "Es gehört zum christlichen  Selbstverständnis, den Menschen ganzheitlich zu sehen, mit seinen Fähigkeiten, aber auch mit seinen familiären Bindungen und Verantwortlichkeiten." Das, was heute unter Schlagworten wie "New Work" diskutiert werde, lasse sich leicht mit diakonischen Werten verknüpfen. "Die Diakonie bietet sinnstiftende Arbeit, also genau das, wonach sich viele junge Menschen sehnen." 

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