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Praxisnahe Pflegeausbildung - "Dann merken sie: es funktioniert"

Pflegefachkräfte sind sehr gefragt. Der Diakonieverein Sindelfingen setzt mit seiner „Schulstation“ auf eine besonders praxisnahe Ausbildung. Azubis übernehmen hier früh Verantwortung. Warum das gut ankommt, schildert die Ausbildungskoordinatorin Silvia Wuchner im Interview.

Zur Person

Silvia Wuchner ist Ausbildungskoordinatorin beim Evangelischen Diakonieverein Sindelfingen e.V.. Sie betreut dort die Themen Freiwilligendienste, Ausbildung und Mentoring. In den Einrichtungen für Seniorinnen und Senioren des Vereins arbeiten in Baden-Württemberg ca. 330 Mitarbeitende verschiedenster Berufsgruppen zum Wohl von über 340 betreuten Menschen zusammen. Der Verein bietet 30 Ausbildungsplätze in der Pflege.

Sie koordinieren das Projekt „Schulstation“. Das Besondere: Pflegeazubis übernehmen hier selbstständig eineinhalb Wochen lang eine Wohnstation für Pflegebedürftige. Wie kam es zu diesem Ansatz?

Silvia Wuchner: Wir haben in der Vergangenheit gemerkt, dass frisch examinierte Pflegekräfte häufig nicht gewohnt sind, Verantwortung zu übernehmen und das leicht zu einer Überforderung führt. Unsere Schulstation lehrt die Auszubildenden früh, Herausforderungen zu meistern, schafft Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten und schult darin, gemeinsam Lösungen zu suchen. So fällt der Übergang in die Praxis deutlich leichter.

Wie läuft ein Tag in der Schulstation ab?
Silvia Wuchner: Die Azubis verrichten alle anfallenden Aufgaben selbst – zum Beispiel die Aufnahme neuer Bewohnerinnen und Bewohner, Visiten oder Materialbestellungen. Selbst die Schichtleitung liegt bei den Azubis – also die Einteilung, wer welche Aufgabe übernimmt.

Ausgestattet mit einer Checkliste versorgen die Azubis die Bewohnerinnen und Bewohner. Dabei werden sie natürlich von Praxisanleitenden begleitet, die ihnen über die Schulter schauen und bei Bedarf mit Rat und Tat zur Seite stehen. 
Nach der Übergabe der Frühschicht an die Spätschicht am Nachmittag gibt es dann eine Reflexionsrunde. Die Azubis reflektieren die jeweilige Schicht und erhalten direkt ein Feedback von den Anleitenden. Auf dieser Grundlage wird der nächste Tag geplant. Am Ende der Spätschicht erfolgt erneut eine Reflexion. 

„Das Projekt schweißt die Gruppe zusammen“

Wie erleben das die zu pflegenden Bewohnerinnen und Bewohner?
Silvia Wuchner: Die freuen sich meistens. Sie bekommen in den eineinhalb Wochen viel Aufmerksamkeit von den Auszubildenden, und werden oft auch etwas verwöhnt, zum Beispiel mit Fußbädern. Die Azubis haben außerdem viel Zeit, um die Bewohnerinnen und Bewohner kennenzulernen und sich mit ihnen zu unterhalten. Die Schulstation rotiert zwischen fünf verschiedenen Heimen, sodass die Mitarbeitenden und Bewohnenden der einzelnen Einrichtung das Projekt erleben können.

Bei Ihnen arbeiten Azubis verschiedener Lehrjahre und aus verschiedenen Einrichtungen gemeinsam in der Schulstation – warum?
Silvia Wuchner: Unabhängig vom Ausbildungsjahr hat das Projekt für alle einen Lerneffekt. Azubis des dritten Ausbildungsjahres können sich für die Prüfung und das praktische Arbeitsleben als Pflegefachfrau bzw. Pflegefachmann vorbereiten. Sie leiten Azubis des ersten und zweiten Ausbildungsjahres an. Dadurch entstehen Synergieeffekte. Sie führen zusammen Besprechungen durch, organisieren Feste auch außerhalb der Schulstation und lernen voneinander. Dieses Projekt schweißt unsere Azubis als Gruppe zusammen.

In sechs Jahren Schulstation – was hat Sie am meisten überrascht?
Silvia Wuchner: Es überrascht mich immer wieder, wie die Gruppen an der Herausforderung wachsen. In den ersten Tagen denken Viele noch: ‚Das wird alles im Chaos enden‘– doch dann merken sie, es funktioniert.  Auch die Praxisanleitenden sind immer wieder neugierig und hoch motiviert. Sie lernen selbst viel Neues in dieser Zeit. Am Ende hat es allen Beteiligten Spaß gemacht, trotz aller Anstrengungen. Die Azubis waren sich jedesmal einig: das Projekt soll weiter geführt werden.

„Ein besserer Personalschlüssel würde die Pflege voranbringen“

Wie nehmen Sie die Herausforderungen für Auszubildende in Pflegeberufen vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie war? Was würde helfen?
Silvia Wuchner: Die Herausforderung erlebe ich als riesig. Erst war die Angst groß, sich anzustecken. Die Personaldecke war häufig enger, sodass teilweise geplante Anleitungen nicht stattfinden konnten. Praxisbesuche durch die Schulen fielen aus. Stattdessen gab es Praxissimulationen in den Schulen. Hilfreich fände ich Fortbildungen und Coachings zur Stressbewältigung speziell für Azubis.

Können Projekte wie die Schulstation die Pflegeausbildung attraktiver machen?
Silvia Wuchner: In jedem Fall. Unsere Absolventinnen und Absolventen heben immer wieder hervor, dass ihnen die Schulstation sehr geholfen hat. Damit werben wir auch gegenüber denjenigen, die sich für eine Ausbildung bei uns interessieren. 

Wie erleben Sie derzeit die Nachfrage nach einer Pflegeausbildung?
Silvia Wuchner: Wir haben sehr viele Bewerbungen aus Afrika, aus Lateinamerika. Die Erfahrung zeigt, dass die Bewerbenden aus dem Ausland die Ausbildung gut packen. Voraussetzung ist, dass sie ausreichende Deutschkenntnisse mitbringen. Darauf achten wir. Leider haben wir nur eine begrenzte Zahl an Zimmern für Auszubildende aus dem Ausland, da sind unsere Möglichkeiten begrenzt. Die Zahl der Bewerbungen aus Deutschland ist leider nicht sehr hoch. Anders als erhofft hat daran auch die Einführung der generalistischen Pflegeausbildung nichts geändert. Auch die öffentliche Aufwertung sozialer Berufe in der Corona-Pandemie und in der Ukraine-Krise schlägt sich noch nicht in wachsenden Bewerbungszahlen nieder.

Was sind aus Ihrer Sicht Schlüsselfaktoren, um mehr Menschen für den Pflegeberuf zu gewinnen?
Silvia Wuchner: Ein Punkt ist die öffentliche Darstellung der Pflege. Sie ist leider oft nur negativ. Darunter leidet das Image des Berufs. Praktisch würde uns ein besserer Personalschlüssel und ein besseres Ausfallmanagement voranbringen. Würden die Dienstpläne eingehalten, wären die Arbeitsbedingungen in Ordnung. Erst bei vielen Personallausfällen kommt es zu den bekannten Problemen. Darüber hinaus müssen natürlich die Gehälter stimmen. Hilfreich fände ich auch mehr Tools für die Pflegekräfte, um mit unvermeidbarem Stress umzugehen.   

Interview: Nathalie Menje
Fotos: Evangelischer Diakonieverein Sindelfingen e.V.

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