Im September kam es beim Verband diakonischer Dienstgeber in Deutschland zu einem Generationenwechsel: Nach über 25 Jahren übergab RA Ingo Dreyer (links) die Hauptgeschäftsführung an Dr. Max Mälzer – ein Gespräch.

Seit 1999 haben Sie den VdDD als Hauptgeschäftsführer geleitet. Wie blicken Sie auf diese Zeit zurück?

Dreyer Ich bin sehr dankbar für die stets produktive Zusammenarbeit mit allen Vorständen und dem Team der VdDD-Geschäftsstelle. Während wir im „Maschinenraum“ unseres Verbandsschiffs gut arbeiten durften, war auf „die Brücke“ – den Vorstand – immer Verlass, was den klaren ordnungspolitischen Kurs betrifft. Ohne das kontinuierliche Engagement der Mitglieder und die Treue der Mitgliedsunternehmen und -verbände hätten wir viel weniger bewegt. Wir konnten Vertrauen in den Kirchen, staatlichen Institutionen, der Politik, der Diakonie- und Verbändelandschaft aufbauen.

Der Aufbau eines Verbandes ist Pionierarbeit. Wie lief das ab?

Dreyer Anfangs ging es vor allem darum, die Diakonie angesichts der Paradigmenwechsel, insbesondere durch Einführung der Pflegeversicherung, in ihrer Wettbewerbsfähigkeit zu stärken. Zum anderen wollten wir die kirchliche Tarifgestaltung modernisieren und von den Vorgaben des damaligen Bundesangestellten-Tarifvertrags emanzipieren. Die grundlegende Reform der Arbeitsvertragsrichtlinien 2007 hat einen wesentlichen Beitrag geleistet, um mehr Anreize zu geben, in der Diakonie zu arbeiten. Der Tarif ist nun für junge Fachkräfte attraktiv, Eingruppierungen erfolgen aufgabenorientiert, Aufstiege durch schematischen Zeitablauf wurden relativiert. Die Orientierung an den Tarifverträgen des Öffentlichen Dienstes spielt jedoch auch noch heute eine Rolle, obwohl die dortigen Rahmenbedingungen zur Tarifsetzung deutlich von denen der Sozialwirtschaft abweichen und die Tarifpartner im Vergleich zum Wettbewerbsumfeld eher „atypisch“ sind.

Von Vereinheitlichung in der diakonischen Tariflandschaft ist man jedoch noch weit entfernt …

Dreyer Mit den Arbeitsvertragsrichtlinien der Diakonie Deutschland konnten bundesweit anwendbare Regelungen etabliert werden – mehr als jeder vierte Mitarbeitende in der Diakonie arbeitet mit einem solchen Vertrag. Es gibt sicherlich noch Potenzial, was die Effektivität der Systeme betrifft: Die Organisation von 13 Arbeitsrechtlichen Kommissionen, die häufig zu ähnlichen Ergebnissen kommen, bindet Ressourcen, die für innovative konzeptionelle Personalarbeit bzw. Tarifpolitik besser genutzt werden könnten. Zu beachten ist jedoch, dass die Rahmenbedingungen in den Regionen unterschiedlich sind, so dass eine gewisse Differenzierung nötig ist. 

Während die Tarifbindung in säkularen Unternehmen stetig sinkt, schafft das kirchliche Arbeitsrecht durch eine hohe Tarifbindung und flächendeckende Mitbestimmungsmöglichkeiten Verlässlichkeit. 

Ingo Dreyer

Herr Mälzer, Sie haben bereits früher die Arbeit des VdDD kennengelernt. Was reizt Sie an der neuen Aufgabe?

Mälzer In meiner Zeit als Geschäftsführer des Dienstgeberverbandes im Bereich des Diakonischen Werks Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz habe ich die Zusammenarbeit mit dem VdDD immer als sehr konstruktiv empfunden. Dass ich nun nach drei Jahren in anderer Funktion und Branche hier einsteigen konnte, hat mich insofern gereizt, als dass ich mich als eingefleischten „Diakoniker“ sehe. Ich fühle mich der Diakonie als Idee und auch der diakonischen Gemeinschaft verpflichtet und freue mich jeden Tag, ein Teil davon zu sein. Die inhaltliche Arbeit, das kirchliche Arbeitsrecht, die Interessenvertretung, all das macht den Job spannend. Hinzu kommt, dass die Geschäftsstelle mit einem tollen Team gut aufgestellt ist.

Was haben Sie sich für das erste Jahr vorgenommen?

Mälzer Mir ist es wichtig, den Übergang reibungslos zu gestalten und die konstruktive Zusammenarbeit in der Geschäftsführung mit Rolf Baumann fortzusetzen. Wir wollen weiterhin ein zuverlässiger Dienstleister für unsere Mitglieder sein. Die weithin anerkannten Leistungen des VdDD gehen weit über die kirchengemäße Arbeits- und Tarifpolitik hinaus und stärken die Position der Mitglieder im Wettbewerb. Darüber hinaus will ich den Kontakt zu politischen Entscheidungsträgern intensivieren, um ihnen besser vermitteln zu können, welchen gesellschaftlichen Nutzen diakonische Arbeit stiftet.

Welche Herausforderungen sehen Sie heute wie damals?

Dreyer Es bleibt die Herausforderung, die Bedeutung des Dritten Sektors für unsere Wirtschaft und Gesellschaft deutlich zu machen. Ein weiterer Punkt ist der Umgang mit den anhaltenden Angriffen von ver.di gegen das kirchliche Arbeitsrecht. Dabei hätten die Mitarbeitenden der Diakonie viel zu verlieren: Denn während die Tarifbindung in säkularen Unternehmen stetig sinkt, schafft das kirchliche Arbeitsrecht durch eine hohe Tarifbindung und flächendeckende Mitbestimmungs-Möglichkeiten Verlässlichkeit. Das irreführende Framing, statt der verfassungsgemäßen Koalitionsfreiheit ein „Grundrecht auf Streik“ zu postulieren, nervt. Der VdDD setzt dagegen auf seriöse Argumentation und das Prinzip von Partnerschaft und Konsens mit den Mitarbeitenden, um solide Arbeitsbedingungen zu ermöglichen. Dabei behalten wir stets auch die Wirtschaftlichkeit der Unternehmen und das Wohl der Klienten im Blick.

Wie schätzen Sie die Zukunft des kirchlichen Arbeitsrechts ein?

Dreyer Das Konsensprinzip zur Vermeidung von Arbeitskämpfen, die auch erheblich zu Lasten der Pflegebedürftigen, Patienten oder anderweitig zu Betreuenden und ihrer Angehörigen gehen, halte ich für absolut zukunftsfähig. Im Bereich der gesamten Daseinsvorsorge ist es womöglich sogar vorbildlich. Gerade in einer Gesellschaft, in der Streit zunehmend eskaliert, ist das Schlichtungsmodell förderlicher und für den Einzelnen in der Abwägung erträglicher sowie auch für die Volkswirtschaft vorteilhaft. Die Streiks bei der Bahn und in Kitas haben jüngst gezeigt, dass die Verhältnismäßigkeit zwischen den eigenen Vorteilen für die Belegschaft und der Betroffenheit Dritter kaum mehr gegeben ist. Hinzu kommt bei uns noch das Konzept der Dienstgemeinschaft und unsere besonders empfundene Verpflichtung gegenüber den uns anvertrauten Menschen.

Der Verband ist seit Gründung kontinuierlich gewachsen. Wieviel Wachstumspotenzial sehen Sie noch?

Mälzer Der VdDD ist heute ein bundesweites Netzwerk und vertritt einen großen Teil der unternehmerischen Diakonie. Unser Bundesverband ist eine wertgeschätzte Plattform zur Innovationsgestaltung. Das kann sicherlich auch noch für andere Träger, die bei uns bislang – erstaunlicherweise! – noch nicht organisiert sind, attrakiv sein. Von daher werden wir auch weiterhin offen für Neumitglieder sein. Wir freuen uns über jeden, der mit uns zusammenarbeiten will. Wenn man sich die Berichterstattung zu den Gründungszeiten anschaut, hat man den Eindruck, dass Themen wie Reformstau und Personalmangel nicht wirklich neu sind …

Dreyer Natürlich haben Sozialunternehmen seit langem mit Personalmangel zu kämpfen. Durch die demografische Entwicklung hat sich dieser jedoch massiv verstärkt. Hinzu kommt die Herausforderung bei der Integration Geflüchteter in den Arbeitsmarkt. Sicherlich ist durch die abnehmende kirchliche Bindung in der Gesellschaft auch die missionarische Profilbildung sehr viel stärker (an)gefragt. Nicht zuletzt wird die allgemeine wirtschaftliche Situation vielfältigere Kooperationen bis hin zu Fusionen erforderlich machen. Hinsichtlich der territorialen und fachlichen Organisation diakonischer Verbände sind zwar Fortschritte erreicht, aber auch Entwicklungspotenziale kaum zu übersehen.

Wir freuen uns über jeden, der mit uns zusammenarbeiten will.

Dr. Max Mälzer

 

Mälzer Wir müssen uns auch weiterhin mit der Frage auseinandersetzen, wie wir den technischen Fortschritt gut nutzen können. Die Digitalisierung und Künstliche Intelligenz bergen noch großes Potenzial. Ein anderes Thema ist die weit verbreitete Meinung, dass sich der Staat um alles kümmern soll. Dem müssen wir entgegentreten und immer wieder um Verständnis für die Relevanz kirchlich-diakonischer Angebote werben. Dafür ist auch die Zusammenarbeit mit anderen Verbänden wichtig.

Das Schwerpunktthema dieser Ausgabe ist die Alterssicherung. Wie bewerten Sie die aktuelle Rentenpolitik?

Dreyer Die Probleme waren lange absehbar. Wir brauchen einen neuen Gesellschaftsvertrag, um soziale Sicherheit und Frieden zu bewahren. Dafür müssen wir uns auch ehrlich die Frage nach den Prioritäten stellen. Wie wollen wir die Bereiche Sicherheit, Klima und Soziales gewichten? Ich fürchte, die Bedeutung der sozialen Sicherheit für die Demokratie wird unterschätzt!

Mälzer Natürlich sammelt man mit einer grundlegenden Rentenreform, die eingefahrene Gleise verlässt und für alle Veränderungen bedeuten würde, keine Beliebtheitspunkte. Aber wenn das Problem immer weiter aufgeschoben wird, bis der Leidensdruck zu hoch ist, werden die Leute mit den Füßen abstimmen und versuchen, sich der Solidargemeinschaft zu entziehen. Bereits heute sind viele nicht mehr daran gebunden, in Deutschland zu arbeiten, sondern können das auch in oder aus einem anderen Land heraus.

Oder man wechselt in die Schwarzarbeit …

Mälzer … die leider im Bereich der Pflege sehr ausgeprägt ist. Schätzungen bewegen sich zwischen 150.000 und 400.000 Personen. Der Umfang der gesamten Schattenwirtschaft wird in diesem Jahr voraussichtlich auf 481 Milliarden Euro steigen. Je mehr Menschen und Unternehmen sich dieser Solidargemeinschaft entziehen, desto teurer wird es für diejenigen, die ehrlich ihre Steuern und Sozialabgaben zahlen. Und je teurer die Arbeit für Unternehmen wird, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass diese abwandern.

Eine viel diskutierte Frage im Kontext der Rentenpolitik ist das gesetzliche Renteneintrittsalter…

Dreyer Diese Frage ist nur ein Teilaspekt, wir brauchen eine offene Diskussion um die Generationengerechtigkeit: Wie verteilen wir die zu leistende Arbeit und den daraus folgenden Wohlstand? In diesem Zusammenhang sollten wir auch die Geringqualifizierten nicht außer Acht lassen: Dass es im Jahr 2022 fast drei Millionen Menschen zwischen 20 und 34 Jahren ohne abgeschlossene Berufsausbildung gab, ist ein Skandal. Das heißt, es fehlt hier eine relevante Gruppe an potenziellen Beitragszahlern.

Mälzer Umso wichtiger sind in diesem Zusammenhang auch spezielle Angebote der diakonischen Unternehmen, die es jungen Erwachsenen ermöglichen, einen Schul- oder Berufsabschluss nachzuholen.

Eine persönliche Frage: Welche Pläne haben Sie nach dem Ausscheiden aus dem Berufsleben?

Dreyer Aktuell ist mein Plan, keinen Plan zu haben. Allerdings entspricht Untätigkeit auch nicht unbedingt meinem Naturell.

Ein letztes Wort zum Abschied…

Dreyer Wenn es den VdDD nicht schon geben würde, müsste er erfunden werden. Den gesellschaftlichen Wandel (mit)zugestalten ist beste diakonische Tradition und bleibt die Aufgabe!

 

Vielen Dank für das Gespräch!

Die Fragen stellte Tobias-B. Ottmar
Fotos: AW | VdDD

VdDD-Magazin "diakonie unternehmen"

Mehr zum Thema "Generationengerechtigkeit - Wie schaffen wir das Gleichgewicht?" finden Sie im VdDD-Mitgliedermagazin "diakonie unternehmen" 2/24, das VdDD-Mitgliedern kostenfrei zur Verfügung steht. 

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Tobias-B. Ottmar
Tobias-B. Ottmar

Referent für Öffentlichkeitsarbeit und Verbandskommunikation