Künstliche Intelligenz wird die soziale Arbeit verändern. Der Computerlinguist, Psychologe und Unternehmer Ramin Assadollahi (ExB-Group) beschreibt KI-Chancen für den Dienst am Menschen.

Allerspätestens seit ChatGPT ist Künstliche Intelligenz (KI) in aller Munde. Die rasante Entwicklung von KI in den letzten Jahren hat das Potenzial, die Bereiche Gesundheit, Sozialsektor und Pflege grundlegend zu revolutionieren.

Viele sind fasziniert von dieser Technologie und ihren Möglichkeiten, andere haben Angst vor ihr: Was passiert mit meinem Job? Werde ich ersetzt? Bevormundet? Überwacht? Diese Befürchtungen sind nachvollziehbar, insbesondere, wenn die tatsächlichen Fähigkeiten nicht abgeschätzt werden können. Verstärkt wird dieses Gefühl von manchen Medien, die mit zugespitzten Artikeln Angst erzeugen, statt aufzuklären oder gar realistische Möglichkeiten aufzuzeigen.

Ein Teil dieser Möglichkeiten erstreckt sich auf den Gesundheits- und Pflegesektor. Bereiche, die in den kommenden Jahren vor großen Herausforderungen stehen. Aufgrund des demografischen Wandels und des steigenden Bedarfs an Pflegeleistungen wird es immer schwieriger, genügend Fachkräfte zu finden, die die Bedürfnisse pflegebedürftiger Menschen erfüllen können. Ich bin überzeugt: KI kann einen entscheidenden Beitrag leisten, um die Pflegequalität zu erhöhen und den Fachkräftemangel zu mildern.

Ausgangslage: Zeitmangel

Es gibt viele Ideen und schon ganz konkrete Anwendungsfälle, wie Digitalisierung und KI dabei helfen können, die zentralen Herausforderungen in der sozialen Arbeit zu lösen. Beispielsweise das Thema Zeitmangel und das hohe Arbeitspensum, das das Personal bewältigen muss. Wie schaffen wir es, mehr Zeit für die Patienten zu haben und die Beziehung zwischen Pflegern und Pflegebedürftigen sowie die Organisation der Arbeit positiv zu beeinflussen? Um es greifbar zu machen: In 2015 verbrachten Klinikärzte rund 44 Prozent ihrer Arbeitszeit mit Dokumentationen und bürokratischen Aufgaben, das Pflegepersonal rund 36 Prozent, dies ist in den vergangenen Jahren nicht besser geworden. 

Robotik & Sensorensysteme

Hier können KI-basierte Assistenzsysteme Abhilfe schaffen. Diese helfen dabei, die Pflegekräfte bei der täglichen Arbeit zu unterstützen und somit die Arbeitsbelastung zu reduzieren. So können beispielsweise Robotik-Systeme eingesetzt werden, die Pflegebedürftige beim Aufstehen, bei der Körperpflege oder bei der Nahrungsaufnahme unterstützen. Auch der Einsatz von KI-basierten Sensorsystemen kann dazu beitragen, den Gesundheitszustand der Pflegebedürftigen kontinuierlich zu überwachen und im Bedarfsfall Alarm zu schlagen. Dadurch können Pflegekräfte frühzeitig auf Veränderungen reagieren und gezielte Maßnahmen ergreifen.

Automatisierung von Routineaufgaben

Eine weitere Chance liegt in der Automatisierung von Routineaufgaben: KI-basierte Systeme können viele repetitive und zeitaufwändige Aufgaben übernehmen, wie zum Beispiel die Überwachung von Vitalfunktionen oder die Verwaltung von Medikamenten. Aber auch in “sekundären” Prozessen wie der Beschaffung kann durch Automation enormes Potenzial gehoben werden, hier spielt Papier bisher noch eine sehr große Rolle. Kosten, die hier gespart werden, können in mehr Pflegekräfte und deren Ausbildung investiert werden. Dadurch haben Pfleger mehr Zeit, sich auf die individuellen Bedürfnisse und Wünsche ihrer Patienten zu konzentrieren.

Neuer Nutzen der Dokumentation

Deutlich ausbaufähig sehe ich in diesem Zusammenhang das Thema Dokumentation. Wofür dokumentieren wir? Was lernen wir aus diesen Dokumenten für den Patienten, für die Abläufe und für die Organisation? Wir lassen hier enormes Potenzial ungenutzt, wertvolle Erkenntnisse über Patienten hinweg gewinnen zu können, wenn wir “lediglich” im Dienste von Abrechnung und Haftung dokumentieren. Die automatische Analyse von Patientendaten und die Identifikation von Risikofaktoren bietet die Chance, individuelle Behandlungspläne zu erstellen, die auf die Bedürfnisse des Einzelnen zugeschnitten sind. Dem entgegen steht die Herausforderung, dass im Sozialgesetzbuch kein Budget für Cloud-Ausgaben vorgesehen ist und sich die Verarbeitung von Patientendaten nach wie vor sehr schwierig darstellt.

Nur mit, nicht gegen den Menschen

Nicht unerwähnt soll bleiben, dass es auch Bedenken bezüglich des Einsatzes von KI in der Pflege gibt. Ein häufig genanntes Argument ist die fehlende menschliche Komponente und die potenzielle Isolation der Pflegebedürftigen. Es ist wichtig, dass der Einsatz von KI in der Pflege immer im Einklang mit ethischen und moralischen Grundsätzen erfolgt. Dabei sollten stets der Schutz der Privatsphäre und die Würde der Pflegebedürftigen im Vordergrund stehen. Um es auf den Punkt zu bringen: Erfolgreich können wir KI nur mit den Menschen einführen, nicht gegen die Menschen. Das Wichtigste ist also, die Arbeits- und Tagesabläufe von Pflegenden und Patienten zu verstehen, welche Dokumentation dabei welchen Nutzen bringt und ob diese oder neue Dokumentation den Arbeitsablauf für beide Seiten leichter macht. 

Überzeugungstäter zurückgewinnen

In Gesprächen höre ich manchmal die Befürchtung, dass Menschen darunter leiden könnten, wenn eine Organisation effizienter wird. Ich glaube, diese Hypothese ist falsch: Patienten leiden, weil die Pflege nicht genug Zeit hat, an manchen Stellen ineffizient ist und es an relevanten Stellen an Ressourcen fehlt. Fatalerweise verliert das System Menschen, die eigentlich pflegen, ihrem Herzen folgen, mit Menschen arbeiten wollen - weil bei gleichem Verdienst die Arbeitsbedingungen anderer Jobs attraktiver sind. KI dann dabei helfen, die Arbeitsbedingungen zu verbessern und diese so wichtigen “Überzeugungstäter” wieder für die Pflege zu gewinnen.

Mehr Entlastung, mehr Qualität

Insgesamt blicke ich zuversichtlich in die Zukunft, die gerade beginnt: Der Einsatz von KI in der Pflegebranche bietet viele Chancen und Möglichkeiten, um die Pflegequalität zu verbessern und den Fachkräftemangel zu mildern. Durch den Einsatz von KI-basierten Assistenzsystemen, die Überwachung von Gesundheitszuständen, die Verbesserung der Medikamentenvergabe, die Optimierung von Pflegeprozessen und die Unterstützung bei Schulungen und Fortbildungen durch den Einsatz von KI-basierten Lernsystemen können Pflegekräfte entlastet und die Qualität der Versorgung verbessert werden.  So kann diese faszinierende Technologie dafür eingesetzt werden, sowohl das Leben von Patienten als auch von Personal leichter und angenehmer zu machen.

Zum Autor

Dr. Ramin Assadollahi ist Gründer und CEO der Intelligent Document Processing (IDP) Plattform ExB. Der Autor zahlreicher Forschungsarbeiten im Bereich Natural language processing (NLP) und Neurowissenschaften ist einer der Erfinder der „Next-Word-Prediction“, die heute weltweit in allen gängigen Mobilgeräten Verbreitung gefunden hat. Foto: ExB

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