Die ForuM-Studie, der Protest gegen Rechtsextremismus und eine Sozialstaatsdebatte prägen den Start des neuen Diakonie-Präsidenten Rüdiger Schuch. Im Gespräch mit dem VdDD-Vorstandsvorsitzenden Dr. Ingo Habenicht erläutert Schuch seine Position. Ebenfalls Thema: Der Vorbildcharakter des kirchlichen Arbeitsrechts.

Hinweis: Dieser Text erschien am 15. Mai 2024 im VdDD-Mitgliedermagazin "diakonie unternehmen".

Angesichts neuer Finanzbedarfe, etwa bei der Verteidigung, steht der Sozialstaat neu zur Debatte. Manche dringen darauf, die Sozialausgaben einzufrieren, wenn nicht zurückzufahren. Verstehen Sie das?

SCHUCH: Ich verstehe diese Debatte nicht und sie erfüllt mich auch mit Sorge. Demokratie und sozialer Frieden hängen eng mit dem Sozialstaat zusammen. Rund 20 Prozent der Bevölkerung in Deutschland ist von Armut bedroht. Jedes vierte Kind in Deutschland ist armutsgefährdet. Viele Menschen bringt die Inflation in große Schwierigkeiten. Kürzungen im Sozialbereich würden diejenigen treffen, die am meisten auf Hilfe angewiesen sind. Ja es gibt neue, wichtige Finanzbedarfe. Ich rate aber dazu, auch die Einnahmeseite in den Blick zu nehmen. Ein starres Festhalten an der Schuldenbremse ist aus meiner Sicht in dieser Lage falsch.

HABENICHT: Die Debatte kann ich nachvollziehen. Sie sollte aber nicht einseitig und verkürzt geführt werden. Der Sozialstaat stabilisiert nicht nur unsere Gesellschaft. Sozialausgaben haben auch volkswirtschaftlich positive Effekte. Die aktuellen Gehaltssteigerungen in sozialen Berufen bedeuten zum Beispiel auch mehr Steuereinnahmen, mehr Kaufkraft, mehr Sozialbeiträge und höhere Renten für Menschen, die wichtige Arbeit leisten. Wo wir ein Problem haben, ist das Finanzierungssystem. Der Reformbedarf der Sozialversicherungen ist bekannt.

„Permanenter Druck im System“

Das Handelsblatt kommentierte im Frühjahr: „Ganze Branchen müssen sich neu erfinden, aber die Wohlfahrt darf nach alten Mustern weiter Misswirtschaft betreiben“. Ist da was dran?

SCHUCH: Zunächst einmal ist der Anspruch an die Sozialwirtschaft richtig, dass wir die uns anvertrauten Mittel effizient und effektiv einsetzen. Auch wir müssen bei unseren Leistungen und Prozessen innovativ sein, auch im Sinne geringerer Kosten. Aber: Genau das erlebe ich in der Diakonie. Insofern kann ich weder den Vorwurf einer Misswirtschaft nachvollziehen noch die Forderung nach Kürzungen mit dem Rasenmäher.

HABENICHT: Von allgemeiner Misswirtschaft in der Wohlfahrt zu sprechen ist eine völlige Verkennung der Realität. Das kann nur jemand sagen, der die letzten Jahrzehnte nicht mitbekommen hat. Seit 1995 haben wir einen permanenten wirtschaftlichen Druck im System, der zu ständigen Reformen und Anpassungen zwingt. Wir haben oft rigide gedeckelte Kostensätze bei gleichzeitig steigenden Kosten. Ein Ergebnis sind die aktuellen Insolvenzen in der Pflege und im Krankenhausbereich. Wer Innovationen einfordert, muss außerdem wissen, dass etwa Kostensätze für Altenheime keinerlei Innovationsbudgets vorsehen.n Wenn die Träger zum Beispiel in Digitalisierung investieren, dann aus eigenen Mitteln und auf das Risiko, die digitalen Betriebskosten nicht refinanzieren zu können.

„Wir können stolz auf gute Löhne sein“

Herr Habenicht sprach die jüngsten Gehaltssteigerungen auch in der Diakonie an. Besteht nicht die Gefahr, dass sich diakonische Leistungen dadurch zu stark verteuern – Stichwort Eigenanteil in der Pflege?

SCHUCH: Zunächst: Wir können stolz darauf sein, dass wir über kirchliche Verfahren zu einvernehmlichen Abschlüssen zwischen den Dienstnehmern und Dienstgebern kommen. Und es ist gut, dass wir in der Diakonie gute Löhne zahlen. Ich hoffe auch, dass sie ein Anreiz sind, in der Diakonie zu arbeiten und hier für uns alle wichtige Arbeit zu leisten. Dass die Pflege immer teurer wird, liegt daran, dass Pflegebedürftige übermäßig an den Pflegekosten beteiligt werden. Dass zum Beispiel die Investitionskosten unsolidarisch auf die Bewohnenden umgelegt werden, spart dem Staat enorme Kosten. Als Diakonie setzen wir uns seit langem für eine Pflegereform und eine Begrenzung der Eigenanteile ein.

HABENICHT: Dem kann ich nur zustimmen. Die Botschaft darf aber gerne noch breiter gehört werden: Auch ohne Arbeitskämpfe kommen wir in der Diakonie zu guten Löhnen.

„Es ist eine Grenze überschritten“

Herr Schuch, Sie positionierten sich mit der Diakonie Deutschland gleich zu Beginn Ihrer Amtszeit öffentlich gegen Rechtsextremismus. Viele diakonische Unternehmen taten das auch. Warum ist diese Deutlichkeit wichtig?

SCHUCH: Wir sprechen nicht von anderen politischen Positionen innerhalb des demokratischen Spektrums. Wir sprechen von rechtsextremen Positionen, die ein klarer Angriff auf die demokratische Gesellschaft und übrigens auch auf den Sozialstaat sind. Deswegen bin ich froh, dass auch die diakonischen Unternehmen Stellung beziehen. Die Liebe Gottes gilt allen Menschen, egal welcher Herkunft und Religion. Mit Ideen wie der sogenannten ‚Remigration‘ ist eine Grenze überschritten, auch von einer Bundestagsfraktion. Außerdem arbeiten in der Diakonie und der gesamten Sozialwirtschaft Menschen aus der ganzen Welt zusammen. Unsere Kolleginnen und Kollegen nichtdeutscher Herkunft sind zutiefst verunsichert. Sie erwarten von uns zurecht Klarheit.

HABENICHT: Rechtsextremismus widerspricht so sehr unseren Werten, dass wir dazu nicht schweigen können. Rechtsextreme und Rechtspopulisten tun gerne so, als würden sie eine schweigende Mehrheit vertreten. Da müssen wir deutlich machen: nein, ihr seid nicht die Mehrheit, ihr steht nicht für Deutschland. Wer ideologisch verfestigt ist, wird sich von unseren Appellen nicht beeindrucken lassen. Aber für die Unentschiedenen sind unsere Signale wichtig. Bei mir im Unternehmen ging der Wunsch, gemeinsam als Johanneswerk Gesicht zu zeigen, übrigens von der Gesamtmitarbeitervertretung aus.

Herr Schuch, ebenfalls an den Start Ihrer Amtszeit fiel die Veröffentlichung der ForuM-Studie zu sexualisierter Gewalt in Kirche und der Diakonie. Sie haben Konsequenzen angekündigt. Was wollen Sie in den kommenden Jahren erreichen?

SCHUCH: Für die Diakonie muss gelten: Wir bieten den Menschen, die sich uns anvertrauen, einen sicheren Raum. Das bedeutet, wir haben eine klare gemeinsame Haltung, eine starke Prävention und wirksame Schutzkonzepte, aber auch klare Mittel der Intervention. Übrigens gilt das in allen Bereichen diakonischer Arbeit, auch in der Alten- und Eingliederungshilfe. Außerdem wünsche ich mir eine Kultur und Instrumente, die dafür sorgen, dass sich Betroffene bei uns melden.

Herr Habenicht, sollte jede diakonische Einrichtung eine eigene Prüfung vornehmen und etwaige Fälle sexualisierter Gewalt mit den Betroffenen aufarbeiten?

HABENICHT: Die Taten sexualisierter Gewalt in Kirche und Diakonie waren für die betroffenen Kinder und Jugendlichen existenziell belastend. Doch leider ist die Aktenlage insbesondere in der Diakonie so, dass ich wenig Hoffnung habe, insbesondere weit zurückliegende Fälle heute noch systematisch durch Aktenstudium aufarbeiten zu können. Es geht, wie Herr Schuch sagt, um die Frage, wie wir Betroffene und ehemalige Mitarbeitende dazu bewegen können, sich zu melden. Hier setzen wir viel Hoffnung auf die regionalen Aufarbeitungskommissionen. Auch ich plädiere dafür, unseren Fokus zu weiten, auch auf erwachsene Betroffene und auf wirklich alle Formen der Gewalt. Beispielsweise ist in Beratungs- und Psychotherapiesituationen darauf zu achten, Menschen nicht emotional von sich abhängig zu machen, oder in Werkstätten darauf, die Beschäftigten nicht wirtschaftlich auszunutzen.

„Wir brauchen eine gemeinsame Systematik“

Nicht einheitlich geregelt ist bislang die Höhe und Finanzierung von Anerkennungszahlungen an die Betroffenen. Was muss die Diakonie an dieser Stelle leisten?

SCHUCH: Die Frage nach der Anerkennung ist eine, bei der Kirche und Diakonie eng beieinanderbleiben sollten. Ziel ist, aus dem Beteiligungsforum heraus ein Verfahren zu entwickeln, womit wir eine gemeinsame Größenordnung, aber auch eine gemeinsame Systematik für die Anerkennungszahlungen bekommen.

HABENICHT: Es darf nicht sein, dass die Höhe einer Anerkennungsleistung von der Gegend abhängt, in der die Tat begangen wurde. 

Kommen wir noch zu einem anderen Thema. Das kirchliche Arbeitsrecht sieht statt Arbeitskämpfen eine verbindliche unabhängige Schlichtung vor, wenn sich Arbeitnehmende und Arbeitgebende nicht einigen können. Provokant gefragt: Könnte das ein Modell für andere Bereiche der öffentlichen Daseinsvorsorge sein – Stichwort Bahnverkehr?

HABENICHT: Das Streikrecht ist eine wichtige gesellschaftliche Errungenschaft, doch es ist mittlerweile in vielen – wohlgemerkt nicht allen – Bereichen kontraproduktiv. In der Tat würde ich mir in manchen Auseinandersetzungen auch außerhalb von Kirche und Diakonie verbindliche Schlichtungsverfahren wünschen. Die Bundesregierung fragte ja, inwieweit das kirchliche dem staatlichen Arbeitsrecht angeglichen werden kann. Da finde ich, die umgekehrte Frage sollte auch erlaubt sein. Ich halte unseren kirchlichen Mechanismus zur Konfliktlösung gerade vor dem Hintergrund der aktuellen Erfahrungen für hochmodern und überzeugend.

SCHUCH: Ich würde es nicht ganz so einschätzen. Wir haben in Kirche und Diakonie gute Lösungen gefunden. Gleichzeitig ist das Streikrecht ein hohes Gut, die Koalitionsfreiheit ist im Grundgesetz verankert. Das würde ich nicht antasten. Ich bin als Bahnfahrer selbst Leidtragender dieser Streiks, aber ich sehe hier die Sozialpartner in der Verantwortung, nicht den Staat.

Interview: Alexander Wragge

Zu den Personen

Pfarrer Rüdiger Schuch (links) ist Präsident der Diakonie Deutschland und stellvertretender Vorstandsvorsitzender des Evangelischen Werkes für Diakonie, sein Gesprächspartner Pastor Dr. Ingo Habenicht ist Vorstandsvorsitzender des Evangelischen Johanneswerks und VdDD-Vorstandsvorsitzender.

VdDD-Magazin: diakonie unternehmen

Dieser Text stammt aus dem VdDD-Mitgliedermagazin "diakonie unternehmen" 1/24, das VdDD-Mitgliedern kostenfrei zur Verfügung steht. 

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Alexander Wragge
Alexander Wragge

Referent für digitale Kommuni­kation und politische Netzwerk­arbeit